Laurins Vermächtnis (German Edition)
1998 bis ...
Matthias erkannte eindeutig die Handschrift seines Großvaters. „Tagebuch“ ... Das also war es, was sein Bruder so sorgfältig verschlossen hatte. Rainer hatte nie etwas über Tagebücher des Großvaters gesagt, und auch Karl Jäger hatte niemals – zumindest nicht in Matthias‘ Gegenwart – darüber gesprochen, dass er sich Notizen über sein Leben mache oder gemacht habe. Das passte zu diesem akkuraten Mann, seine Tagebücher nicht nur mit dem Datum zu beschriften, sondern auch mit dem Wort „Tagebuch“. Ein Enddatum war nicht eingetragen. Es schien das letzte Tagebuch zu sein, das Karl Jäger angelegt hat.
Matthias wischte sich die Handflächen an seiner Hose ab und öffnete den Einband des Büchleins vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger.
1. Januar 1998:
Ich werde in diesem Jahr 80 Jahre alt. Sollte das heute mein letzter Neujahrstag hienieden sein, so wäre es vielleicht auch gut. Ich habe getan, was ich tun mußte, vor allem später dann auch, was ich tun wollte und genossen, was es zu genießen gab. Mein Sohn ist leider schon lange nicht mehr, meinen Enkeln habe ich gegeben, was ich ihnen geben konnte, und Urenkel werde ich wohl keine mehr bekommen. Matthias ist zur Genüge damit beschäftigt, auf sich selber aufzupassen; er ist ein Träumer und Philosoph, aber keiner, der die Verantwortung für ein anderes Leben tragen könnte. Was Rainer angeht: Der liebt Kinder, wie ich glaube, nur von fern.
Matthias hatte einen Kloß im Hals. Er schloss die Kladde und legte sie auf den Boden. Dann griff er nach den anderen, aber sehr vorsichtig; kein Riss oder Knick, der da vorher nicht war, sollte Rainer verraten, dass sein Bruder die Bücher in der Hand gehabt hatte. Er achtete auch auf die Reihenfolge, in der die Tagebücher gestapelt waren: chronologisch, das Jüngste zuoberst.
Matthias war nicht wirklich erstaunt, dass sein Großvater Tagebuch geführt hatte. Er hatte einfach nur nie darüber nachgedacht. Ihn überkam Erregung: eine ganze Schublade voller möglicher Antworten auf Fragen, die er früher nicht gestellt hatte und die ihn jetzt umso mehr umtrieben.
„Mattes?“
Matthias hatte für ein paar Augenblicke völlig vergessen, dass er nicht allein im Büro war. Manfredo stand auf der anderen Seite des Schreibtisches, in der einen Hand seine halbleere Flasche Moretti, in der anderen die beiden Dietriche, mit deren Hilfe er das Schloss geöffnet hatte.
„Entschuldige, ich war gerade total versunken.“
„Das habe ich gemerkt. Was hast Du ... nein, lass‘ mich anders fragen: War es eine gute Idee, dass wir die Schublade aufgemacht haben?“
„Ich glaube schon.“
Matthias griff nach einer der Kladden.
„Schau Dir das an“, sagte er und hielt sie Manfredo entgegen.
„Nein, nein, ich wollte nur wissen, ob es gut war, dass wir diese Aktion durchgezogen haben. Ansonsten will ich gar nichts wissen. Ich habe Dir die Schublade aufgemacht, weil Du mich nicht ohne guten Grund gebeten hättest – that‘s it. Ich werde jetzt nach Hause fahren, und wenn wir das Ding wieder verschließen sollen, sagst Du mir Bescheid.“
Matthias wusste, dass er das, zumindest zunächst, respektieren sollte. Er hätte seine Entdeckung zwar gerne mit Manfredo geteilt und sich moralischen Beistand von ihm geholt, aber ihm war vollkommen klar, wie viel sein Freund ohnehin schon für ihn getan hatte.
„Wird Rainer irgendwas merken?“
„Nein, wenn er nicht gerade eine Überwachungskamera in seinem eigenen Büro installiert hat, oder Du Bratensauce über diese Bücher kippst ... Dieses Schloss wird jedenfalls hinterher wieder jungfräulich sein.“
Diese Versicherung sollte Matthias eigentlich beruhigen, aber die von Manfredo ohne große Absicht hingeworfene Bemerkung mit der Überwachungskamera versetzte ihm einen Stich.
Matthias begleitete seinen Freund bis vor das Hotel, dann ging er ins Büro zurück. Er konnte nicht anders, als seinen Blick über die Decke und die Wände schweifen zu lassen. Natürlich entdeckte er nichts, aber das musste ja nicht bedeuten, dass da nicht doch irgendwo eine Kameralinse versteckt war. Matthias zwang sich, den Gedanken gleich wieder fallen zu lassen. Erstens wäre er ohne Manfredos Bemerkung niemals auf die Idee gekommen, Rainer könnte sein eigenes Büro überwachen. Und zweitens: Selbst wenn – falls die versteckten Tagebücher des Großvaters Grund genug waren, Rainer zur Rede zu stellen, spielte dieser „Einbruch“ auch schon keine Rolle mehr. Falls sich
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