Laurins Vermächtnis (German Edition)
die Tagebücher als harmlos herausstellen sollten, so konnte Matthias immerhin noch die Haltung vertreten, sein Bruder habe ihm durch sein seltsames, geradezu verdächtiges Verhalten gar keine andere Wahl gelassen, als den Dingen auf den Grund zu gehen.
Matthias nahm den ganzen Packen Tagebücher aus der Schublade, klemmte ihn sich unter den Arm, schob die Schublade wieder zu, verließ das Büro und verschloss die Tür. Er fühlte sich zwar wie ein Dieb auf der Flucht, aber andererseits: Wer sollte sich darüber wundern, wenn der Hotelbesitzer mit einem Packen Unterlagen aus dem Büro kam?
Als er in sein Zimmer kam, blinkte das rote Licht des Anrufbeantworters. Greta teilte ihm mit, dass sie noch eine weitere Nacht bei ihrer Freundin Daniela verbringen und am kommenden Vormittag nach Hause kommen werde. Sie klang ganz ausgeglichen und freundlich. Matthias schöpfte daraus die Hoffnung, dass ihr letztes Gespräch nichts kaputtgemacht hatte. Und für den Augenblick war es ihm ohnehin lieber, mit den Tagebüchern des Großvaters alleine zu sein.
7. Kapitel
Matthias saß am Schreibtisch und schaute durch das Fenster auf den vergehenden Tag. Rechts und links von ihm lag das Leben seines Großvaters gestapelt.
„Neunzehnhundertdreiundvierzig“ – Matthias vermutete, dass er hier Antworten auf seine Fragen finden würde. Es könnten allerdings verstörende Antworten sein, die er, hätte er sie einmal gefunden, nicht mehr würde vergessen können. Schon wieder ertappte er sich dabei, prophylaktisch nach Entschuldigungen oder Erklärungen für das suchen zu wollen, was er herausfinden könnte. Aber war das nicht tatsächlich sinnvoll? Erhob nicht jeder gewissenhafte Arzt eine Anamnese seines Patienten, bevor er sich an eine Diagnose heranwagte? Matthias hatte den leisen Verdacht, dass dieser Vergleich hinkte, aber darüber auch noch nachzudenken, hatte er nun wirklich keine Zeit.
Wo also anfangen? Es wäre sicher interessant gewesen, sämtliche Tagebücher des Großvaters zu lesen und eine intellektuelle Bereicherung obendrein – Karl Jäger war ein Mann, der mit Worten umgehen konnte. Aber das konnte sich Matthias nicht leisten. In 24 Stunden mussten die Tagbücher wieder in ihrer Schublade und die Schublade fachmännisch verschlossen sein. Matthias beschloss, mit dem Band „1939“ anzufangen. In diesem Jahr hatten seine Großeltern geheiratet; außerdem war es das Jahr des Kriegsbeginns. Er nahm sich die entsprechende Kladde und blätterte zunächst noch etwas ziellos und vor allem vorsichtig, damit ja auf keiner Seite ein verräterischer Riss oder Knick entstand. Er ließ den Blick diagonal über die Zeilen gleiten und versuchte, sich nicht verleiten zu lassen, an Stellen hängenzubleiben, die für einen Historiker interessant sein mögen. „Danzig“, „Hitler“, „Stalin“ - Karl Jäger hat sich in seinen Aufzeichnungen durchaus mit dem beschäftigt, was die Welt bewegte, aber das war es nicht, wonach Matthias suchte. Er suchte nach Einträgen, die etwas mit dem persönlichen Leben des jungen Wehrmachtssoldaten Karl Jäger zu tun hatten. Und so flog er weiter über die Zeilen und Seiten, bis er auf einmal an dem großgeschriebenen Wort „SCHWEINEREI“ hängenblieb.
20. August 1939
Was macht die Identität eines Mannes aus? Seine Familie, sein Glaube? Das, was er mitbekommen hat: die Sprache, die Kultur?
Oder ist es seine Heimat? Aber was ist Heimat? Der Ort, an dem er nun einmal lebt, oder der Ort, an dem Menschen leben, die sind wie er – die die gleiche Sprache sprechen, die gleichen Bräuche pflegen?
Die Weltläufte haben mich, als ich noch ein Säugling war, zu einem Italiener gemacht. Doch die ersten Worte, die dieser Säugling vernommen hat, waren deutsch, und deutsch ist er in den Jahren danach auch erzogen worden. Sei‘s drum! Das Schicksal hat es manchen Menschen eben aufgegeben, in zwei Welten zu leben.
Aber was passiert jetzt? Es ist eine reine SCHWEINEREI. Den Herren Mussolini und Hitler hat es gefallen, mich zu zwingen, mein aus zwei Welten bestehendes Leben zu zerreißen und die eine Hälfte für immer aufzugeben. Freilich – ich kann bleiben, wo ich bin, an meinem Geburtsort, in meinem Geburtshaus. Aber die ersten Worte, die die Kinder, dich ich dereinst haben werde, hören werden, werden nicht deutsch sein, weil sie nicht deutsch sein dürfen. In der Schule werden sie eine fremde Sprache lernen und fremde Bräuche pflegen. Ich werde ihr Vater sein, aber sie werden mich nicht
Weitere Kostenlose Bücher