Laurins Vermächtnis (German Edition)
mit seinem Freund Paul Moroder anlegen wollte. Aber heute brauchte er keinen Beschützer mehr, und er war sich sicher, dass das Leben für einen, der ein Herz hat, mehr Freundschaft und Liebe bereithält als für andere. Außerdem irritierte ihn das ungewöhnliche Verständnis seines Bruders. Normalerweise konnte der es nicht einmal haben, wenn sich jemand anderer an seinen Schreibtisch nur hinsetzte.
„Hörst Du mir zu?“
„Ja doch!“
„Also, wie gesagt, das mit dem Schreibtisch war nicht in Ordnung. Aber es gibt einen Grund, warum ich davor zurückschrecke, Dir eine aufs Maul zu hauen.“
Matthias erschrak. Diese unverhohlene Aggressivität, die in der Luft hing, gepaart mit der aufreizenden Vernünftigkeit und Ausgewogenheit, die Rainer zelebrierte – das war eine beängstigende Mischung.
„Ich war nämlich auch nicht immer ganz aufrichtig zu Dir.“
Matthias horchte auf.
„Nein, das war unglücklich formuliert; unaufrichtig war ich eigentlich nicht. Ich habe Dir nur eine Zeit lang etwas verschwiegen, was ich Dir durchaus irgendwann in den vergangenen sieben Jahren hätte erzählen können. Können, wohlgemerkt – nicht müssen.“
Matthias’ Kopfhaut begann zu jucken. Dieses endlose Herumdifferenzieren, dieses Gekritzel in winzigen Karos, wie ein Kater, der noch eine Zeitlang mit der Maus herumspielt, bevor er sie verschlingt! Was sollte das werden?
Rainer zog drei zusammengefaltete Bögen Papier aus der Brusttasche seines Sakkos.
„Das hat mir unser Großvater gegeben, als er schon sehr krank war. Er hat mir das Versprechen abgenommen, diesen Brief erst nach seinem Tod zu lesen, ebenso wie seine Tagebücher, die er in einem Koffer aufbewahrt hatte. Nein – sag’ nichts – ich habe vorher auch nicht gewusst, dass er Tagebuch geschrieben hat. Lies diesen Brief, bevor wir weiter reden. Ich lasse Dich gerne ein paar Minuten allein.“
Nachdem Rainer die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, faltete Matthias die Blätter auf. Er erkannte die Handschrift seines Großvaters. Sie wirkte ein bisschen anders als in den frühen Tagebüchern, etwas zittriger manchmal, wie wenn er die Feder langsamer geführt hätte. Aber war das ein Wunder? Karl Jäger war 84 Jahre alt, als er starb. Aber die Schrift war zu identifizieren.
„Rainer“ , begann der Brief, „jetzt, wo meine Zeit hienieden zu Ende gegangen ist, sollst Du einige Dinge wissen. Früher konnte ich Dir nicht davon erzählen, weil Du noch zu jung warst, und später, weil ich nicht mehr die Kraft hatte, Deine mögliche Reaktion zu ertragen. Auch Dein Bruder weiß nichts von den Dingen, die ich Dir nun berichten werde. Er ist auf seine eigene Weise immer jung geblieben. Das ist durchaus liebenswert, aber im Leben nicht immer hilfreich. Matthias fehlt die Härte, die ein Mann manchmal haben sollte.“
Einfach „Rainer“. Eine kühle Anrede, wie Matthias fand. Hatte Karl Jäger seinen älteren Enkel vielleicht respektiert und den Jüngeren geliebt, aber keinem beide Gefühle entgegengebracht?
Matthias las weiter.
Sein Großvater fasste die Ereignisse der Kriegsjahre und der Nachkriegszeit zusammen, so ähnlich, wie er es in seinen Tagebüchern getan hatte, nur eben viel kürzer. Die Umfunktionierung des Jägerhofes in eine Verteilzentrale für Nazi-Falschgeld beschrieb er als unvermeidbar, ebenso die Aufnahme von Adolf Eichmann. Dann kam er auf die Holzkisten mit der Aufschrift „Deutsche Reichsbank“ zu sprechen. Er habe noch lange damit gerechnet, dass sich jemand wegen des „Materials“ melden würde. Aus Angst vor Repressalien habe er die Kisten nicht angerührt. Er sei sich viele Jahre nicht sicher gewesen, was der Pfarrer 1950 genau gemeint habe, als er vom Geheimnis um den Hüter des „Schatzes“ gesprochen habe. Sei es um etwas politisch oder historisch Wertvolles gegangen, oder tatsächlich um eine Art von materiellem Schatz? 1975, schrieb Karl Jäger, sei der Pfarrer gestorben. Genau 30 Jahre nach der geheimnisvollen Verladeaktion. Das sei ihm wie ein Zeichen erschienen. Und so habe er es in diesem Jahr gewagt, die Kisten zu öffnen und die Goldbarren entdeckt. „Du kannst Dir wahrscheinlich vorstellen, Rainer“ , schrieb Karl Jäger weiter, „wie ich vor den Kopf geschlagen war. Ja, auf den Kisten stand „Deutsche Reichsbank“, und der Pfarrer hatte von einem „Schatz“ gesprochen, und doch habe ich nie gedacht, dass es sich um ein tatsächliches Vermögen handeln würde. Ich hatte erwartet, irgendwelche Akten
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