Laurins Vermächtnis (German Edition)
mir’s tut, mein Lebenslicht verlischt, freu ich mich, dass der Himmel auch schön wie die Heimat ist.“
Matthias Jäger war der Erste, der danach ein Schäufelchen Erde auf den Sarg seiner Großmutter warf.
Während die Trauergäste, einer nach dem anderen, Helene Jäger am offenen Grab die letzte Ehre erwiesen, standen die nächsten Angehörigen nebendran, nahmen Beileidsbekundungen entgegen, schüttelten Hände, nickten Freunden und Bekannten zu.
Matthias wartete, bis der Strom der Kondolierenden für einen Augenblick abriss, nahm dann mit einer schnellen Bewegung etwas aus der Aktenmappe und ließ es in die Sakkotasche seines rechts neben ihm stehenden Bruders gleiten. Es war so schwer, dass Rainer das Jackett beinahe von der linken Schulter gerutscht wäre. Er griff hektisch in die Tasche, fühlte, was darin lag, schaute zur Seite und sah ein sardonisches Lächeln im Gesicht seines Bruders. Rainer Jäger beschlich eine ziemlich starke Vermutung, was es war, das er immer noch mit der linken Hand umklammert hielt. Er war gezwungen, noch eine gewisse Zeit in dieser Haltung auszuharren. Hätte er seine Hand aus der Tasche genommen, wäre ihm das Sakko über den linken Arm gerutscht. Und wenn seine Vermutung stimmte, konnte er den Gegenstand, hier auf dem Friedhof, vor hunderten von Zeugen, auf keinen Fall herausnehmen. Während er den nächsten Trauergästen geistesabwesend die Rechte entgegenstreckte, rasten alle möglichen Gedankenfetzen durch sein Hirn, fanden dort aber nicht zusammen.
Matthias konnte vor sich selbst nicht verhehlen, dass er diese Minuten genoss. In Luft aufgelöst hatte sich die Selbstherrlichkeit seines großen Bruders. Krumm und verkrampft stand er da und hielt den Trauergästen seine rechte Hand wie eine Schaufensterpuppe entgegen. Und es brauchte nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass in Rainers Kopf gerade ein Gewittersturm tobte.
Der Leichenschmaus beim „Schlernwirt“ begann mit einigem Getuschel. An der Stirnseite der langen Tafel saßen Matthias und Anna Jäger sowie Matthias’ Freundin Greta Baladier, die man hier beim Wirt fast noch nie gesehen hatte. Das Flüstern und die Blicke galten aber nicht dem seltenen Gast, sondern einem leeren Stuhl: Rainer Jäger fehlte. Anna schaute ihren Schwager fragend an, doch der hob nur die Handflächen zu einer Geste, die sagen sollte: „Keine Ahnung“. Greta saß daneben und schaute in ihr Weinglas, wie wenn es darin etwas zu entdecken gäbe.
Auf einmal spürte Matthias eine Hand von hinten auf seiner Schulter. Er schrak herum und sah den Pfarrer des Dorfes.
„Entschuldige Matthias, ich wollte Dich nicht erschrecken. Ich habe mich nur gefragt, wo denn Dein Bruder bleibt. Geht es ihm nicht gut?“
„Ehrlich gesagt, Hochwürden, ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn auf dem Weg vom Friedhof hier herüber aus den Augen verloren. Vielleicht will er ein paar Augenblicke alleine sein. Ich glaube, ich gebe ihm noch ein wenig Zeit, und wenn er dann nicht gekommen ist, werde ich nach ihm sehen. Aber wenn Sie noch einige Worte an die Gemeinde richten und nicht länger warten wollen – Rainer wird bestimmt Verständnis dafür haben.“
Während Matthias noch darüber nachdachte, ob er seinen Bruder tatsächlich suchen sollte, erübrigte sich die Frage. Rainer Jäger kam herein, nickte einigen Gästen zu, gab dem Pfarrer die Hand und setzte sich auf den Stuhl zwischen seinem Bruder und seiner Frau. Anzug, Hemd und Krawatte saßen tadellos und seine dunkelroten Haare waren ohnehin zu kurz, um in irgendeiner Unordnung zu sein, trotzdem machte Rainer auf Matthias einen derangierten Eindruck.
„Ein Wunder wär’s nicht“, dachte sich Matthias.
Die Verwandten der Verstorbenen brachten das Essen ohne große Gespräche hinter sich. Anna ahnte, dass es etwas gab, das sie nicht wusste, traute sich aber nicht, ihren Mann daraufhin anzusprechen. Rainer rutschte auf dem Stuhl umher, stocherte in seinem Essen herum und wechselte ab und zu ein paar Worte mit Leuten, die ihm noch einmal ihr Beileid aussprachen oder sich verabschiedeten. Greta wurde mit jedem Glas Weißwein, das sie trank, immer geistesabwesender.
Nach etwas mehr als einer Stunde erhob sich Anna Jäger und schlug mit dem Dessertlöffel gegen ihr Glas. Die Gespräche im Raum verstummten.
„Liebe Freunde, wir haben heute Abschied genommen, von einem Menschen, der uns und Euch sehr viel bedeutet hat. Ich möchte Euch, auch im Namen der restlichen Familie, ganz herzlich danken,
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