Lauter Bräute
aus, und ich wußte, daß die Situation schnellstes Handeln erforderte. Also holte ich tief Luft und ging auf den Mann zu. »Mr. Harris, ich bin Miß Evans, die Einkaufsassistentin. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Langsam wandte er den Kopf und blickte mich an. Er sah nett aus, beinahe gut, und er trug einen kleinen Schnurrbart. Seine Augen waren dunkel und verschwollen, und während er zu mir aufsah, schossen ihm wieder die Tränen aus den Augen.
»Natalie«, sagte er. »Meine Tochter.«
Ich wollte ihm helfen; brennend gern wollte ich ihm helfen. »Ja?«
»Heiratet nicht«, sagte er und berührte die beiden Schachteln.
»Geben Sie die Brautausstattung zurück?« fragte ich.
Er verdeckte seine Augen mit gespreizten Fingern, um die Tränen zu verbergen. Es war herzzerreißend, einen erwachsenen Mann so verzweifelt weinen zu sehen. Ich beugte mich vor und sagte: »Mr. Harris, möchten Sie mit in mein Büro kommen? Da ist es viel ruhiger, und wir werden nicht gestört.«
Er antwortete nicht, schien mich gar nicht gehört zu haben.
»Mr. Harris«, wiederholte ich drängend.
Er hatte gehört. Linkisch stand er auf und nahm die beiden großen Schachteln auf. »Lassen Sie mich eine nehmen«, sagte ich, doch er ließ es nicht zu. Also hob ich seinen Hut auf, der zu Boden gefallen war, und führte ihn aus dem Foyer. In meinem Büro zog ich einen Stuhl für ihn heran und verschloß dann die Tür, um sicher zu sein, daß niemand ohne anzuklopfen hereinplatzte.
»Sie dürfen gern rauchen, wenn Sie möchten, Mr. Harris«, sagte ich. Glücklicherweise klingelte in diesem Moment mein Telefon. Es war ein Anruf von einem unserer Fabrikanten, und wir sprachen ungefähr drei Minuten miteinander. Als ich den Hörer auflegte, sah ich, daß mein Besucher eine Zigarette rauchte und leeren Blickes aus dem Fenster starrte. Er schien meine Gegenwart völlig vergessen zu haben.
»Mr. Harris«, sagte ich, »ich nehme an, Sie geben eine Brautausstattung zurück, die hier gekauft wurde. Stimmt das?«
Er nickte.
»Wenn Sie wünschen, können Sie die Sachen einfach hier bei mir lassen. Wie wir das im einzelnen regeln, können wir zu einem späteren Zeitpunkt besprechen, wann immer Sie kommen möchten.«
Er antwortete nicht.
»Wenn Sie so freundlich sein würden, mir den Namen der Braut zu nennen, Sir, würde mir das sehr helfen, den Auftrag herauszusuchen.«
Mit belegter Stimme antwortete er: »Natalie R. Harris.« Und in plötzlicher Heftigkeit fuhr er fort: »Das Leben! Das Leben! Wie kann das Leben nur so grausam mit der Jugend sein?« Wieder schossen ihm Tränen in die Augen. »Sie haben meine Natalie kennengelernt, nicht wahr?«
»Sicher habe ich das, Sir.«
»Sie würden Sie nicht vergessen«, sagte er leidenschaftlich. »Sie ist so schön! Zwanzig Jahre alt und eine Schönheit!«
»Sie hat dunkles Haar«, sagte ich aufs Geratewohl.
»Richtig! Und braungebrannt ist sie! Groß und schlank! Und immer fröhlich! Immer lachend! Das ist meine Natalie.«
Ehrlich gesagt, unter anderen Umständen hätte ich gedacht, sie müsse eine rechte Nervensäge sein; doch hier saß ein Vater, der in seinen eigenen Worten die Liebe zu seiner Tochter ausdrückte. Ganz offenbar war etwas Tragisches geschehen und hatte ihn zutiefst erschüttert, aber was? War sie bei einem Unfall verletzt worden? War sie davongelaufen wie Nina Haysmill?
»Können Sie mir erzählen, was geschehen ist?« fragte ich ihn.
»Samstagabend hat sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen, und wir können sie nicht bewegen, herauszukommen. Sie rührt sich nicht vom Fleck. Sie ist immer noch drinnen.« Er wischte sich ein paar neue Tränen aus den Augen und murmelte: »Entschuldigen Sie. Es war ein hartes Wochenende. Und ich bin wohl ein wenig durcheinander.«
Ein wenig durcheinander. Wahr gesprochen. »Haben Sie eine Ahnung, warum sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat?« fragte ich.
»Es ist ein Rätsel! Wir fragen uns ja immer wieder, was der Grund sein könnte. Warum? Warum? Wir wissen nur, daß sie gegen neun mit Paul, ihrem Verlobten, auf eine Party gegangen ist. Sie sah strahlend und glücklich aus. Und wunderschön. Nachdem sie fort war, gingen meine Frau und ich auf einen Sprung zu Freunden, die uns gegenüber wohnen. Wir kamen kurz vor Mitternacht zurück und fanden Natalies Schal im Wohnzimmer. Wir hatten sie so früh noch gar nicht erwartet. Meine Frau ging hinauf, um nachzusehen, ob etwas nicht stimmte — ob Natalie vielleicht Kopfschmerzen hatte oder
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