Lauter Bräute
sich nicht wohl fühlte —, aber Natalies Tür war verschlossen. Als meine Frau versuchte, die Tür zu öffnen, rief Natalie ihr zu, sie solle gehen. Meine Frau fragte sie, was denn los sei, aber Natalie antwortete nicht. Und dann fand meine Frau auf dem Fußboden vor Natalies Tür diesen Brief.«
Er griff in eine Tasche, zog einen quadratischen Pergamentumschlag hervor und reichte ihn mir. Das Blatt drinnen enthielt ein wildes Gekritzel, das nur schwer zu entziffern war:
Vater und Mutter —
wir heiraten nicht.
Ich wiederhole: Nicht.
Es ist alles aus, für ewige Zeiten.
Laßt mich bloß zufrieden. Ich will niemanden sehen
und mit niemandem sprechen.
Bringt mein Brautkleid gleich Montagmorgen zurück
zu Fellowes und laßt euch das Geld wiedergeben.
Sagt ihnen, ich sei gestorben. Natalie
Ich steckte das Papier wieder in den Umschlag und reichte ihn Mr. Harris zurück. »Ehe ich Ihnen etwas wegen der Rückvergütung sagen kann, Mr. Harris, muß ich mir die Order ansehen«, erklärte ich.
»Rückvergütung!« rief er aus. »Wen kümmert die Rückvergütung! Mir geht es um das Glück meiner Tochter. Seit Samstagabend haben wir sie nicht zu Gesicht bekommen; wir haben kein Wort aus ihr herausbringen können. Wir stellen ihr ein Tablett mit Essen vor die Zimmertür; sie macht nicht auf, bis sie uns die Treppe hinuntergehen hört. Nur Kaffee nimmt sie zu sich, keinerlei feste Nahrung. Sie wird da oben verhungern. Was ist geschehen, frage ich mich, was ist nur Samstagabend geschehen, um eine derartige Tragödie auszulösen?«
»Sie und ihr Verlobter haben sich offenbar gestritten — «
»Gestritten? Nennen Sie das einen Streit, junge Dame? Glauben Sie mir: Ich habe lange genug gelebt, um einen Streit zu erkennen, wenn ich einen sehe. Dies ist kein Streit. Gestern hat sie wieder einen Zettel hingelegt: Bringt mein Brautkleid zurück zu Fellowes und laßt euch das Geld zurückgeben. Das hat sie im Sinn, nicht ihr Glück. Die Rückvergütung. Dann heute morgen, ehe ich das Haus verließ, wieder ein Zettel: Vergeßt keinesfalls, das Brautkleid zurückzutragen zu Fellowes; und laßt euch auf alle Fälle das Geld wiedergeben. Das gibt doch keinen Sinn.«
»Sie ist offenbar sehr aufgeregt —«
Er hörte mich nicht und fuhr fort: »Die ganze Sache ist völlig verrückt. Gestern sprach ich mit Pauls Vater — wir sind alte Freunde. Wissen Sie, was Pauls Vater mir sagte? Paul ist Samstag nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Gestern zur Mittagszeit kam er an. Und wissen Sie, was er tat? Er ging hinauf und schloß sich in seinem Zimmer ein. Und auch er will mit niemandem sprechen. Natalie in ihrem Zimmer, Paul in seinem Zimmer — ich kann mir einfach keinen Vers darauf machen. Sind denn alle plötzlich verrückt geworden?«
Fassungslos und gebrochen lehnte er sich zurück; doch ehe ich antworten konnte, wurden wir gestört. Jemand versuchte, meine Tür zu öffnen — jemand begann wild am Griff zu rütteln — jemand versuchte, meine Tür aufzubrechen; und ich kannte nur einen, der diese besondere Hartnäckigkeit besaß. »Entschuldigen Sie mich einen Moment, bitte«, sagte ich zu Mr. Harris, ging zur Tür, schloß sie auf und öffnete sie einige Zentimeter breit.
Kirkpatrick raunzte: »Miß Evans, wie oft habe ich Ihnen erklärt, daß Sie Ihre Tür nicht schließen sollen? Und erst recht nicht abschließen!«
Ich war wütend. »Ich habe einen Besucher, Mr. Kirkpatrick.«
»Tatsächlich?« erwiderte er; und dann wurde er ganz plötzlich ruhig. Er starrte mich an; er starrte an mir vorbei und sah wohl den verweinten und unglücklichen Mr. Harris, und er fragte heiser: »Was, um Himmels willen, geht hier vor?«
Ich trat hinaus in den Korridor und schloß die Tür hinter mir, so daß Mr. Harris nicht hören konnte, was ich sagte: »Der Herr da drinnen ist völlig außer sich —«
»Und deshalb weinen Sie?«
Ich tastete mit den Fingern über mein Gesicht. Es war feucht.
Kirkpatrick wartete meine Antwort nicht ab. »Ich spreche später mit Ihnen, Miß Evans«, sagte er und ging davon. Ich trat zurück in mein Büro und schloß die Tür. Abschließen tat ich sie nicht wieder, denn Mr. Harris stand auf, im Begriff zu gehen.
»Tut mir leid, mein Fräulein, daß ich Ihre Zeit so lange in Anspruch genommen habe«, sagte er.
»Dürfte ich Ihnen etwas vorschlagen, Mr. Harris?«
Er zuckte mutlos mit den Schultern.
»Wir werden die Brautausstattung Ihrer Tochter zehn Tage lang aufheben. Wir werden sie noch
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