Lauter Irre
schön an die vorgeschriebene Geschwindigkeit gehalten, um den Polizeikameras zu entgehen. Der Morgen, der über den Hügeln graute, die riesigen Wiesen und die fernen Wälder hatten ihr frische Energie zufließen lassen. Und hier in Grope Hall anzukommen und zu sehen, dass sich nichts verändert hatte, war der größte Energieschub überhaupt.
Belinda ging zurück zum Auto, wo Esmond noch immer völlig weggetreten auf dem Rücksitz unter einer Decke lag. Sie würde Hilfe brauchen, um ihn ins Haus zu bugsieren. Belinda kehrte in die Küche zurück, kochte Kaffee und wartete darauf, dass jemand kam, der ihr vielleicht helfen konnte, Esmond in eins der Schlafzimmer zu schleppen. Seltsam, jetzt, wo sie hier war, schien nichts mehr besonders dringlich zu sein.
Schließlich sah sie einen Mann in mittleren Jahren mit einem Eimer in der Hand aus der Scheune kommen und rief ihn herbei. Offensichtlich arbeitete er auf dem Anwesen der Gropes.
»Wie heißen Sie?«, fragte Belinda.
»Hier nennen sie mich den alten Samuel.«
»Den alten Samuel? So alt sind Sie doch gar nicht, Samuel.«
»Nein, aber es hat bei den Gropes immer einen alten Samuel gegeben, und als ich hergekommen bin, da war ich siebenundzwanzig, da haben sie mich eben so genannt. Eigentlich heiße ich auch gar nicht Samuel – mein Name ist Jeremy –, aber davon wollte die alte Mrs. Grope nichts hören, und deshalb bin ich der alte Samuel geworden, und der alte Samuel bin ich geblieben. Ich halte den Hof am Laufen und erledige, was hier so anfällt, jetzt, wo nur noch die alte Dame übrig ist.«
»Könnten Sie mir wohl helfen, jemanden aus meinem Auto zu holen? Er schläft da gerade einen Mordsrausch aus.«
Sie gingen zu dem Ford hinüber.
»Kann man wohl sagen«, bemerkte der alte Samuel, als er die Autotür öffnete und den Dunst im hinteren Teil des Wagens einatmete. Er griff hinein und zog Esmond unter der Decke hervor.
»Mit dem, was der getrunken hat, wird er ein paar Tage zu tun haben. Riecht nach Whisky, würde ich sagen. Wo soll er denn hin?«
»In das Zimmer über der Küche.«
Interessiert musterte der alte Samuel Belinda. Offensichtlich kannte sie sich in Grope Hall sehr gut aus. Tatsächlich könnte sie, nach ihrem Aussehen und der Tatsache zu schließen, dass sie einen besinnungslosen jungen Kerl auf dem Rücksitz hatte, durchaus selbst eine Grope sein. Ganz bestimmt jedenfalls sah sie so aus, als ginge es ihr ausnehmend gut.
23
Von Esmond konnte man das nicht behaupten. Er hatte stundenlang im Alkoholnebel geschlummert, und nachdem er in das Zimmer über der Küche geschafft worden war, hatte er sich bloß zum Pinkeln aus dem Bett gemüht. Das Problem war nur, dass zu dem Zimmer kein eigenes Bad gehörte und der einzige Nachttopf unter dem Bett stand, ganz hinten an der Wand. Beim Versuch, daranzukommen, war er aus dem Bett gefallen und hatte daraufhin kurzerhand den Teppich nassgepinkelt, bevor er wieder eingeschlafen war.
Belinda hatte die dunklen Vorhänge zugezogen, als Samuel Esmond mit ihrer Hilfe nach oben geschleppt hatte, und dann die Tür abgeschlossen, ehe sie selbst schlafen gegangen war, endlich doch erschöpft von der langen Fahrt in dem alten Ford. Am späten Nachmittag wachte sie auf und sah nach Esmond. Er hockte auf der Bettkante, starrte den nassen Fleck auf dem Boden an und sah schrecklich aus.
»Was du brauchst, ist eine anständige Mahlzeit.«
»Wo bin ich, Tante Belinda?«, wollte er wissen und schaute aus dem Fenster auf die kahlen Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckten.
»Du bist nach Hause gekommen. Hier gehörst du hin.«
»Nach Hause? Das hier ist nicht mein Zuhause. Mein Zuhause ist in Croydon.«
»Und ich bin nicht deine Tante, ich bin deine Verlobte. Wir werden heiraten, weißt du das nicht mehr?«
»Heiraten? Aber das geht doch nicht. Du bist doch schon verheiratet, und du bist meine Tante. Du bist Mrs. Ponson, die Frau von Onkel Albert, diesem grässlichen Gangster.«
»Ach, mein armer Junge. Du warst sehr lange krank, mein Schatz. Wir waren verheiratet, aber wir haben uns scheiden lassen. Weißt du denn nicht mehr, du hast mich überredet, mit dir durchzubrennen.« Belinda zögerte einen Moment lang. »Und noch etwas, du darfst nie den Namen Ponson benutzen. Darauf bestehe ich. Dein Nachname ist Grope, genau wie meiner, und dein Vorname ist Joe. Wenn irgendjemand dich fragt, sagst du, du heißt Joe Grope. Wiederhole das.«
»Joe Grope.«
»Und du wohnst in der Lyke Road in Ealing.
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