Lauter Irre
zu, damit die Kellner Urlaub machen können. Jetzt ist der Zeitungsladen unten auf der Plaza, und dort bekommen Sie eine.«
Horace dankte ihm und sah zu, wie der Mann zu einem anderen Tisch hinüberging und auf Katalanisch und dann in reinstem Spanisch mit einem Ehepaar sprach, das ihn offenkundig nicht verstand und in sehr gutem Englisch erwiderte, sie kämen aus Finnland.
»Finnland«, sagte der Hotelmanager und erkundigte sich dann, ob sie schon ihre Wahl getroffen hätten, was sie zum Frühstück wünschten. Doch Horace hatte das Interesse verloren und ging hinaus auf die Promenade. Er fand den Zeitungsladen, wo er den Daily Telegraph und, zur Abwechslung mal, die Daily Mail erstand.
Nach seiner Rückkehr war er in sein Zimmer hinaufgegangen, und jetzt saß er auf dem Balkon, ohne die Zeitungen anzusehen. Ein weißes Kreuzfahrtschiff am Horizont stach ihm ins Auge, und er bereute gerade, dass er sich nicht für diese komfortable Fluchtmöglichkeit entschieden hatte, statt sich auf die schreckliche Reise nach Lettland und die Irrfahrt durch Europa zu begeben. Da fiel ihm wieder ein, dass er die Route von den Londoner Docks aus Angst gewählt hatte, dass die normalen Häfen möglicherweise überwacht wurden und er durchaus hätte erkannt werden können. Auf jeden Fall, überlegte er, war es auf einem Kreuzfahrtschiff außerdem möglich, dass er einem seiner Bankkunden begegnete. Nein, der Gammelfrachter war die sicherste, wenn auch die unbequemste Methode gewesen, aufs europäische Festland überzusetzen.
Alles, was Horace jetzt brauchte, war eine völlige Veränderung seiner äußeren Erscheinung. Er hatte sich bereits einen Schnurrbart stehen lassen, und sein Bart spross aufs Erfreulichste. Er würde dem Foto in dem Pass, den er in Salzburg gekauft hatte, mehr als gerecht werden.
Endlich wandte Horace sich den Zeitungen zu, die er sich besorgt hatte, und ging sie gründlich durch, um zu sehen, ob irgendwo ein vermisster Filialleiter aus Croydon erwähnt wurde und, noch schlimmer, ein Foto von ihm abgedruckt wäre. Sehr erleichtert, nichts dergleichen zu finden, machte er sich wieder daran, die menschlichen Körper zu betrachten, die unter ihm im Sand lagen, und wünschte sich, er wäre noch ein junger Mann.
35
Esmond empfand so ziemlich das genaue Gegenteil; er hatte endlich das Gefühl, erwachsen zu sein. Es machte ihm ungeheuren Spaß, zusammen mit dem alten Samuel das Anwesen zu bewirtschaften. Endlich behandelte man ihn wie einen Erwachsenen und ließ ihn – gleichfalls wie einen Erwachsenen – Verantwortung übernehmen. Er hatte große Zuneigung zu den Schweinen und Ferkeln gefasst, die zwischen dem Gemüsegarten neben dem Haus und der hohen Steinmauer mit dem Torbogen herumwühlten, durch den sie den alten Ford Cavalier gefahren hatten, als dieser in dem alten Bergwerk begraben worden war. Dann war da noch der Melkschuppen, mit einem von Steinen gesäumten Pfad, der von den Weiden jenseits der grasbewachsenen Hänge herabführte. Esmond, oder Joe Grope, wie alle ihn beharrlich nannten, trieb gern die Kühe zu dem Schuppen hinunter, so, wie ihm alles Freude machte, was man ihm auftrug.
Er hatte keine Ahnung, wo er war, doch das war ihm egal. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde er nicht von seiner Mutter verhätschelt oder so offenkundig von seinem Vater verabscheut. An jenem Abend dachte Esmond im Bett über die Zukunft nach und wusste genau, was er tun würde.
36
In Essexford war der Superintendent am Verzweifeln. Der neue Forensikexperte, den das Innenministerium geschickt hatte, war herablassend und nicht im Mindesten hilfreich gewesen, wenngleich er Esmonds DNS auf dem Teppich des Bungalows identifiziert hatte – an der Stelle, wo der Junge laut Albert umgefallen war. Außerdem hatte er anhand von Blut, das er mit einer Spritze dem Arm seiner Mutter entnommen hatte, nachgewiesen, dass Esmond tatsächlich Mrs. Wileys Sohn war.
»Sicher, jetzt wissen wir also, dass sie Mutter und Sohn sind, aber auf dem Boden ist nicht genug Blut, um die Vermutung zu rechtfertigen, dass er ermordet worden ist. Er könnte auch über eine Flasche gestolpert sein. Waren all diese zerbrochenen Flaschen schon hier, als Sie eingebrochen sind?«
»Ja«, knurrte der Superintendent verbittert; die Betonung, die der Experte auf das Wort »eingebrochen« legte, gefiel ihm nicht. »Ich hoffe doch, Sie glauben nicht, meine Männer hätten den Schnapsladen ausgeräumt und sich die Kante gegeben. So blöd sind die
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