Lautlos im Orbit (1988)
mein Körper seine Eigenmasse verloren. Die Schläge aber fühle ich deutlich.
Dort oben verströmt die Glocke die Kraft ihrer Bewegung in langwellig an- und abschwellenden Tönen, die sich mir so intensiv mitteilen, daß sie jedes einzelne meiner Atome in Resonanz zu zwingen scheinen. Und dies ist das Seltsame meiner Situation: Ich spüre die gewaltige Kraft der Töne, ich nehme sie auf mit jeder Faser meines Fleisches, und doch bleibt mein Gehör frei von Schmerzen.
Ich weiß nicht, wie und wodurch ich hierher an die Stätte meiner Jugend verschlagen worden bin, und ich weiß auch nicht, ob ich schon Mann bin oder noch Kind.
Die Kirche von Calman’s Edge steht außerhalb des Ortes an der Ostseite eines engen Hohlwegs, der hinüber zu der Geröllhalde unterhalb des Hexenstuhls führt, auf deren Hang man vor kurzem einen unserer Lehrer tot aufgefunden hat. Es ist eine Holzkirche, die aus nur einem einzigen Raum besteht. Selbst der Glockenturm mit seinen mehretagig gekreuzten Balken geht ohne Zwischendecke direkt aus dem Schiff hervor, so daß die kleine Glocke frei und sichtbar über dem Altar schwingt. Seit die Bewohner Calman’s Edge verlassen, seit die roten Bärte unheimlichen Grases in den Dachrinnen der Häuser wuchern, leuchtende Wolken durch den Ort driften und allerlei anderes Wunderliches geschieht, liegt stets eine Bibel mit leuchtendgoldenem Kreuz auf der Altarplatte, die irgend jemand immer wieder an der Stelle der Offenbarung des Johannes, der Apokalypse, aufschlägt: Und ich sah ein falbes Pferd, und der darauf ritt, hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.
Über dem Altar und unter der Glocke, zwischen bronzenem Klöppel und goldenem Kreuz, zwischen Himmel und Erde, liegst du auf dem Rücken, mit deinen Schulterblättern das rauhe Holz der Turmverstrebung kaum berührend, als halte dich eine unbekannte Kraft in der Schwebe, und du hast keine Ahnung, wie du hierhergekommen sein könntest.
Dann ist dir, als erschüttere hin und wieder ein leichter Stoß das Gebälk des alten Turmes, du spürst das vom allgemeinen Schwingen Abweichende dieser Stöße ganz deutlich, weil sie sich nicht in den Rhythmus der Glockenschläge fügen, und gleich darauf hast du erkannt, daß sich der Rhythmus selbst verändert hat, daß er nicht mehr dem Muster einer gleichförmigen Schwingung gehorcht, sondern unregelmäßig und systemlos geworden ist.
Das kann nicht die alte Glocke von Calman’s Edge sein, nicht die kleine Kirche aus Holz, das ist überhaupt kein Geräusch, das du einzuordnen vermagst.
Da endlich gelingt es dir, dein Bewußtsein in die Nähe der Wirklichkeit zurückzuzwingen, und langsam tauchst du aus dem zähen Brei deines Traumes. Doch die schwingenden Glockenschläge verfolgen dich weiter.
Das sind die Geräusche von Fügeschlägern, lang nachhallend in den gekrümmten Korridoren der Station, das ist das Rascheln von Isolierstoff, leise, als blättere jemand zaghaft in den dicken Seiten eines uralten Buches, und es ist das Zischen von Brennern, hell und pfeifend, als zwänge sich ein kühler Wind zwischen losen Dachziegeln hindurch.
Das Reparaturteam ist endlich eingetroffen und hat die Instandsetzungsarbeiten begonnen.
Da löse ich die Gurte und stoße mich von der Liege ab. Hinter dem Bullauge ist samtige Schwärze, eine seltsame, durchsichtig matte Finsternis, in der die Sterne wie weißliche Splitter funkeln, so unbeweglich wie gestern, vorgestern oder vor fünf Tagen nun schon. Von dem Entsatzshuttle ist nichts zu sehen, wahrscheinlich hat man ihn auf der anderen Seite vertäut, in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Sektion vier. Dafür ist ganz rechts ein Stück des schwächlichen Regenbogens zu erkennen, mit dem sich die Erde stellenweise umgibt, ein dünn gezeichneter Kreisabschnitt, dessen Farben ohne Leuchtkraft sind, als läge eine dicke Schicht grauen Nebels darüber.
Vielleicht hätte ich mich, wäre wenigstens ein Teil des Shuttles zu sehen, mit dessen bloßem Anblick zufriedengeben können, so aber spüre ich etwas von der Unruhe in mir, die fast immer unter der Besatzung einer Raumstation um sich greift, wenn Besucher von der Erde angekommen sind. Jeder von uns lechzt nach ungefilterten Informationen, nach einem Gespräch mit jemandem, dessen Art, sich auszudrücken, er noch nicht bis zum Überdruß kennengelernt hat. Mündlich überbrachte Informationen, und seien sie auch so alt wie Methusalem, sind eben wesentlich interessanter als die Nachrichten aus dem Lautsprecher.
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