Lautlos im Orbit (1988)
Houston Space Port und in Nevada Sands stehen zu jeder Minute eines jeden Tages mindestens drei Shuttles einsatzbereit. Das Verladen einer Austauschsektion würde höchstens Stunden in Anspruch nehmen, die Reparatur hätte also längst vollzogen sein können.
Trotzdem vergeht Tag um Tag, ohne daß die Meldung über den Start des Reparaturteams eintrifft.
Da kommst du dir schließlich vor wie vergessen oder, was noch schlimmer ist, wie überflüssig. Daraus resultiert die miese Stimmung an Bord, die sich um so weiter ausbreitet, je mehr Zeit nutzlos vergeht.
Glenn Morris schwebt in diesen Tagen wie ein böser Geist durch die Station. Er hat seine Augen und Ohren überall, taucht auf, wo man ihn am wenigsten erwartet, und moniert auch die kleinste, die letzte Nachlässigkeit. Er hat sich angewöhnt, viel über Disziplin zu reden und mit drakonischen Strafen für Nichtbeachtung des Bordregimes zu drohen.
Vor allem die Adaptiva haben es ihm angetan, jene Stimulanzien oder Medikamente also, nach deren Einnahme sich die Welt freundlicher oder erträglicher als zuvor repräsentiert. Eine seiner ersten Maßnahmen nach der Havarie war die Beschlagnahme und Vernichtung der ohnehin kaum nennenswerten Bestände an Drogen. Bis dahin ist nur ganz selten etwas davon angerührt worden, sie waren vorhanden, weil sie auf der Ausrüstungsliste standen, doch jetzt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, ihr Fehlen mindere das Wohlbefinden der Besatzung erheblich. Einen Tag später dehnte der Commander die Prohibition auf die stärkeren alkoholischen Produkte aus und am nächsten sogar auf Ginol-Tonic, ein Getränk, das sich an Bord großer Beliebtheit erfreute.
Entsprechende, in Anbetracht der Verfassung des Commanders allerdings sehr verhalten geäußerte Bedenken beantwortete er mit dem Hinweis, daß offenbar auch eine nur kurzzeitige Alkoholisierung zu desolaten und gefährlichen Zuständen führen könne.
Wenn er, was selten geschieht, auf die Havarie und die damit verbundenen Umstände zu sprechen kommt, dann weist er stets auf die der Zerstörung vorangegangenen Stunden hin, in denen nach seinem Empfinden mehr als üblich gespielt und gedopt worden sei.
Die Adaptiva für das Geschehene verantwortlich zu machen ist eine Hilfslösung, eine wohlfeile Krücke, an der sich das Weltverständnis des Commanders wieder aufzurichten vermag. Sie können höchstens Auslöser, niemals aber alleiniger Grund für die Vorgänge an Bord gewesen sein.
Eine Erkenntnis, die bei Glenn Morris zumindest zeitweise, und zwar ganz am Anfang, Fuß gefaßt haben muß. Denn als er aus der UNO-Debatte erfuhr, daß der bis dahin als vermißt geltende Peer Bergerson in Wahrheit nicht nur Opfer, sondern auch Urheber der Katastrophe war, benutzte er spontan die Bezeichnung »Schwein«. Er hat diese Beschimpfung nie zurückgenommen oder in Richtung einer bewußten Gegnerschaft Bergersons korrigiert. Er weiß, daß fast alle Besatzungsmitglieder Ohrenzeugen seiner ersten, zornighilflosen Reaktion waren, und Rückzüge sind in seinem Verhaltensrepertoire nicht enthalten. Aber er hat sie modifiziert, jetzt ist Peer Bergerson ein »betrunkenes Schwein« gewesen.
Eine Hilfslösung, die vielleicht nicht so sehr für andere, sondern vor allem für ihn selber konstruiert worden ist, um den wahren Sachverhalt zu demontieren. Angst vor der Erkenntnis, daß sich Bergerson bewußt mit den ihm verfügbaren Mitteln zur Wehr gesetzt hat.
Nach allem, was von den Spezialisten des Pentagons ermittelt werden konnte, dürfte Peer über keinerlei Hinterland verfügt haben, weder in politischer oder ideologischer, noch in finanzieller Hinsicht. Man muß ihn für einen Einzeltäter halten, der ohne eine andere als die, und das wahrscheinlich ganz spontan, selbstauferlegte Mission gehandelt hat. Ein Ermittlungsergebnis, das haargenau in des Commanders so hilfreiches Theoriekonzept paßt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit seiner Beurteilung der Vorgänge um den Tod der Funkerin Liliana Brix, der ihn im übrigen mehr zu verwirren scheint als der Bergersons. Vielleicht weil er von der ein wenig verspielt wirkenden Liliana alles andere erwartet hat als suizidale Tendenzen. Ihren Tod möchte er als einen aus der Trunkenheit resultierenden Unfall gewertet sehen. Daß er wirklich davon überzeugt ist, kann ich nicht glauben, denn so ungewöhnlich der Selbstmord in einer Schleusenkammer auch sein mag, ein Unfall wäre noch unwahrscheinlicher. Immerhin sind mehrere, zeitlich genau
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