Lautlos wandert der Schatten
wollen wir ein wenig
verschnaufen und Halbzeit feiern. Deswegen wandern wir heute nur 20 km. Ein
doppelter Rummel überfällt uns in dem kleinen Städtchen an der Nive. Einmal
überschwemmt ein lauter Tagestourismus den Ort, so daß wir den bösen Satz
verstehen, der an eine Mauer gesprüht ist: „Tourismus ist Terrorismus“. Zum
anderen feiern die Basken ihren Nationalfeiertag; es ist der 14. August. Im
Städtchen erwischen wir mit Mühe das letzte Bett, hoch oben unterm Dach;
vermutlich das Zimmer der Dienstboten. Zur Ruhe kommen wir in dieser Nacht
nicht. Das lautstarke Treiben auf den Straßen und Plätzen, unterstützt von
Spielmannszügen aus der ganzen Gegend und den Dudelsackpfeifern mit ihren
ungewohnten Melodien, dauert bis in den Frühnebel des jungen Tages hinein. Also
ziehen wir unausgeschlafen in aller Herrgottsfrühe weiter, atemberaubend steil
die Pyrenäen hinauf.
In
Saint-Jean-Pied-de-Port unterhielt der Bischof ein Gefängnis, das heute noch am
Eingang der Stadt zu sehen ist. Es war vor allem für die Conquillards gedacht,
für jene räuberischen Banditen, die sich auf die Jakobuspilger spezialisiert
hatten. Die Horden von Straßenräubern, Erwerbslosen und Fahnenflüchtigen
schreckten nicht davor zurück, selbst Pilgerherbergen zu überfallen oder die
Pilger unterwegs bei hellem Tageslicht auszurauben. Wer von den Muschelräubern
gefaßt werden konnte, wurde im Gefängnis der Stadt eingesperrt, einfach
vergessen und kam so ums Leben. Hart und unbarmherzig war der Strafvollzug
damals.
Auch
anderswo versuchten Kirche und Behörden mit drakonischen Maßnahmen dem
Bandenunwesen, das den Jakobusweg begleitete, Herr zu werden. So wird 1337 ein
Engländer gehenkt, der einem Santiagopilger auf dem Heimweg fünf Goldstücke
und, was weit schlimmer war, die Compostellana, die Pilgerbescheinigung,
gestohlen hatte. Ein Wirt wird verbannt, weil er betrunkenen Pilgern Wasser als
Wein verkauft hatte, ein anderer gehenkt, weil er den Besitz eines Verstorbenen
an sich genommen hatte.
Ein
Pilgerführer aus alter Zeit übertreibt die Mühsal des Aufstiegs auf die Höhe
der Pyrenäen ein wenig: „Der Berg ist so hoch, daß er den Himmel zu berühren
scheint; wer ihn besteigt, glaubt, mit eigener Hand an den Himmel reichen zu
können. Vom Gipfel aus kann man das Meer der Bretagne und des Westens sehen,
und auch die drei Länder Kastilien, Aragonien und Frankreich.“ Wir wandern in
den Maria-Himmelfahrtstag hinein. Die Hälfte des Weges liegt nun hinter uns; der
zweite große Abschnitt durch Spanien kann beginnen. Längst haben wir auch die
Beschwerden des Weges hinter uns gelassen; die Blasen sind verheilt, die
Muskelschmerzen überwunden, der Rucksack ist zu einem Teil von uns geworden.
Der Weg hat uns süchtig gemacht, süchtig nach mehr...
Fast
1500 m hoch steigen wir hinauf, um von Frankreich nach Spanien zu kommen. Die
Sonne hat den Nebel überwunden und reife Feigen belohnen unsere Mühen.
Plötzlich holen wir eine größere Gruppe von fröhlichen Pilgern ein. Es sind vor
allem Jugendliche, die in Etappen zum großen Treffen mit dem Papst nach
Santiago gehen und fahren. Ohne Probleme überschreiten wir die Grenze nach
Spanien, die in Polstern von Heidekraut, Ginster und Thymian versteckt ist. Ein
weitläufiger Buchenwald schützt uns vor dem scharfen Wind, der uns in dieser
Höhe kalt und kräftig ins Gesicht bläst. Kurz vor dem sagenumwobenen Kloster
von Roncesvalles kommen wir zum berühmten Denkmal von Roldán.
9
Der Mensch macht Geschichte und die
Geschichte macht den Menschen zu dem, was er ist
H ier
unterhalb des Ibañetapasses fand die entscheidende Schlacht zwischen Karl dem
Großen und den Mauren statt. Die geschichtliche Wahrheit sieht allerdings ein
wenig anders aus. Die Basken waren es, die den fränkischen König in einen
verlustreichen Hinterhalt gelockt hatten. In der Legende hat dies eine weit
größere Bedeutung als in der Geschichte. Die Legendenbildung hat diesmal keinen
religiösen, sondern einen politischen Hintergrund. Deswegen schreibt der alte
Pilgerführer nur: „Anschließend trifft man beim Abstieg von diesem Berg auf das
Hospiz und die Kirche.“ Gemeint ist das Kloster von Roncesvalles, das für die
Pilger ein wichtiger Abschnitt auf ihrer Lebensreise war. Damit stiegen auch
für uns die Aussichten, das Ziel zu erreichen.
Der
Pilgerführer fährt fort: „Dort liegt auch der Fels, den der tapfere Krieger
Roland mit einem dreifachen Schwertstreich von
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