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Lautloses Duell

Titel: Lautloses Duell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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direkt‹. Verstehe. Nun, die Frage lautete: Definieren Sie das oktale Zahlensystem und nennen Sie mir das dezimale Äquivalent der Oktalzahlen 05726 und 12438. Aber weshalb möchten Sie wissen, wie die Frage lautet, wenn Sie nicht einmal Ihre Hausaufgaben erledigt haben? Sie können ja kaum verstehen –«
    »Das oktale System ist ein Zahlensystem mit acht Ziffern, so wie das dezimale System zehn und das binäre System zwei Ziffern hat.«
    »Aha, da haben Sie wohl beim Discovery Channel gut aufgepasst, Mr. Holloway.«
    »Nein, ich …«
    »Wenn Sie schon so schlau sind, warum kommen Sie nicht nach vorne an die Tafel und wandeln diese beiden Zahlen für uns um. Na los, kommen Sie zur Tafel!«
    »Ich muss es nicht extra aufschreiben. Die Oktalzahl 05726 entspricht der Dezimalzahl 3030. Bei der zweiten Zahl haben Sie einen Fehler gemacht. 12438 ist keine Oktalzahl. Im oktalen System gibt es keine Ziffer 8. Nur die 0 bis zur 7.«
    »Ich habe keinen Fehler gemacht. Es war eine Fangfrage. Um zu sehen, ob die Klasse mitdenkt.«
    »Wenn Sie meinen.«
    »Mr. Holloway, Zeit für einen Besuch beim Direktor.«
    Phate saß in seinem Haus in Los Altos im Esszimmerbüro, lauschte einer CD mit James Earl Jones in
Othello
, streifte durch die Dateien seiner Spielfigur Jamie Turner und plante seinen abendlichen Besuch in der St. Francis Academy.
    Die Beschäftigung mit Jamie hatte die Erinnerung an seine eigene schulische Vergangenheit aufgewühlt, etwa an die schwierige Zeit der Mathekurse in den ersten beiden Jahren auf der High School. Phates Schulerfahrungen liefen stets nach einem voraussehbaren Muster ab: Im ersten Halbjahr ging alles bestens, aber im Frühjahr fielen seine Noten steil in den Keller. Das lag daran, dass er die Langeweile der Unterrichtsstunden in den ersten drei oder vier Monaten einigermaßen verdrängen konnte, aber danach war ihm schon der Besuch des Unterrichts dermaßen zuwider, dass er bei den Prüfungen am Ende des zweiten Halbjahres unweigerlich durchfiel.
    Und dann schickten ihn seine Eltern auf eine neue Schule, wo sich die ganze Geschichte wiederholte.
    Mr. Holloway, weilen Sie noch unter uns?
    Das war schon immer Phates Problem gewesen: Grundsätzlich fühlte er sich in der Gesellschaft anderer fehl am Platz; er war ihnen stets um Lichtjahre voraus.
    Seine Lehrer und Studienberater hatten ihr Bestes versucht, ihn in Schnellläuferklassen und dann in noch schnellere Schnellläuferklassen gesteckt, aber nicht einmal dort war es ihnen gelungen, sein Interesse zu fesseln. Und wenn er sich langweilte, wurde er gemein und bösartig. Seine Lehrer – wie der arme Mr. Cummings, der Mathelehrer mit der Oktalsystem-Geschichte – riefen ihn einfach nicht mehr auf, aus Angst, er würde sie und ihren eigenen beschränkten Horizont bloßstellen.
    Das ging ein paar Jahre so, und danach gaben sich auch seine Eltern, die beide selbst Wissenschaftler waren, geschlagen. Da sie genug mit ihrem eigenen Leben zu tun hatten (Paps war Elektroingenieur und Mama Chemikerin bei einem Kosmetikkonzern), war es ihnen mehr als recht, den Jungen nach der Schule einer Reihe von Privatlehrern zu überantworten – womit sie sich ein paar Stunden extra für ihre jeweiligen Karrieren erkauften. Sie bestachen sogar Phates zwei Jahre älteren Bruder Richard, damit er ihn beschäftigte, was normalerweise darauf hinauslief, dass er den Jungen um zehn Uhr morgens mit hundert Dollar Kleingeld bei den Video-Spielhallen auf der Promenade von Atlantic City oder in einem der nahe gelegenen Einkaufszentren absetzte und zehn Stunden später wieder abholte.
    Seine Mitschüler konnten ihn natürlich überhaupt nicht leiden. Er war das »Gehirn«, oder »Jon, der Schlaukopf«, er war »Mr. Wizard«. Anfangs gingen sie ihm aus dem Weg, doch je weiter das Semester voranschritt, hänselten und beschimpften sie ihn gnadenlos. (Wenigstens sahen sie davon ab, ihn zu verprügeln. Wie hat es ein Football-Spieler einmal ausgedrückt? »Den kann doch sogar ein blödes
Mädchen
verkloppen. An dem mach ich mir nicht die Finger dreckig!«)
    Damit der Druck in seinem wirbelnden Gehirn ihn nicht in Stücke riss, verbrachte er immer mehr Zeit an dem einen Ort, der eine Herausforderung für ihn darstellte: In der Maschinenwelt. Wenn sie sich ihn damit vom Leib halten konnten, gaben Mama und Papa ihr Geld nur zu gerne für die entsprechende Ausrüstung aus, und so standen ihm von Anfang an stets die besten PCs zur Verfügung, die es auf dem Markt gab. (»Der Junge

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