Lavendel und Blütenstaub
Erwin wurde ungeduldig. Nicht nur, dass sein Neffe unverantwortlich gehandelt hatte, er hatte nicht ewig Zeit hier herumzutrödeln. Die Arbeit wartete, was dieser nichtsnutzige Bursche wohl nicht verstehen würde.
"Mum ist ja bei Oma und ich dachte, ich lade ein paar Kumpels ein und dann ... irgendwie sind plötzlich hundert Leute oder so da gewesen. Stevy hat das nämlich im Internet gepostet, dass hier eine Party ist und dann ... ach scheiße." Verzweifelt fuhr er sich durch die schwarzen Haare. Sein Gewand stank nach Alkohol und Zigaretten, genauso wie das Wohnzimmer und wahrscheinlich auch der Rest des Hauses. Erwin trat angeekelt einen Schritt zurück.
"Du!", sagte er und zeigte mit gestrecktem Zeigefinger auf Jonathan. "DU räumst DAS", er deutete auf das Wohnzimmer, "DAS ALLES hier auf. Dann fährst du zu deiner Mutter und beichtest. Diesen Mist hast du dir selbst eingebrockt. Du bist achtzehn Jahre alt, also steh dazu." Dann drehte er sich um, ging zum Auto und fuhr mit heulendem Motor davon. Er hatte selbst wahrlich genug Probleme. Sollte doch seine emanzipierte Schwester sehen, was sie von ihrer vaterlosen Erziehung hatte.
Stella
Zwei Jahre lang waren Flavio Santo und Stella Lukas ein Paar gewesen, dann machte er ihr kurz nach dem sechzigsten Geburtstag von Johann einen Heiratsantrag, den sie heulend und schluchzend angenommen hatte. Der schwarzhaarige Italiener mit der braungebrannten Haut und den dunklen Augen hatte seinen Charme spielen lassen und die blonde Stella war ihm hoffnungslos verfallen gewesen.
Die Hochzeit folgte ein Jahr später, das Jahr darauf kam Jonathan zur Welt. Flavio war stolz auf seinen Sohn, der mit pechschwarzem dichtem Haarschopf zur Welt gekommen war. Wochen nach der Geburt ließ sich Flavio aber immer seltener zu Hause blicken. Seine Arbeitszeiten wurden immer länger, die Überstunden häufiger. Stella war zwar misstrauisch geworden, fragte aber nicht nach. Zu sehr war sie mit ihrem kleinen Sohn beschäftigt gewesen.
Ein Jahr später kam es zum Verkauf des Greißlerladens. Erwin, der mit der achtjährigen Aurelia öfters mal bei ihr und Jonathan zu Besuch gewesen war, entzweite damit die Familie. Unbändige Wut und das Gefühl von Verrat kamen in Stella hoch.
Nicht nur, dass sie in dieser Zeit ihren Bruder verloren hatte, auch ihr Mann entfernte sich immer mehr. Eines Tages stand dieser mit gepackter Tasche vor ihr. Jonathan spielte gerade auf seiner Decke am Boden des Wohnzimmers.
"Papa!", jauchzte der Einjährige und streckte seine Ärmchen.
Doch Flavio ignorierte ihn. "Mir reicht's", sagte er knapp zu Stella. "Ich gehe zurück nach Italien."
Das war das letzte Mal, dass Jonathan seinen Vater gesehen und gehört hatte. Das einzige, was ihm geblieben war, waren das dunkle Aussehen und der Name seines Vaters, den Stella so sehr verabscheute, aber ihres Sohnes willen behalten hatte.
Vor zwei Jahren war Stella dann durch Zufall im Internet über den Namen Flavio Santo gestolpert. Die dazu verknüpften Fotos hatten ihren Ex mit einer hübschen, italienisch aussehenden Frau und zwei jugendlichen Mädchen gezeigt. Bilduntertitel offenbarten, dass es Flavios Frau und seine beiden Töchter waren. Stella schätzte deren Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahre. Nun wusste sie auch den Grund, warum Flavio so plötzlich nach Italien verschwunden war. Nie hatte sie eine Kontaktadresse herausgefunden.
Jonathan gegenüber hatte sie nie etwas davon erwähnt. Er war auch so schon schwierig genug. Dass sein Vater eine andere Familie hatte, würde ihn wohl noch mehr aus der Bahn werfen. Besser sie hielt den Mund und hoffte, dass sich dieser aufgeblasene italienische Trottel bloß nie bei ihr melden würde. Sie würde ihm sonst alles Mögliche an den Kopf werfen.
Vier Nächte hatte Stella schon auf der unbequemen Couch im Wohnzimmer verbracht. An diesem Morgen fiel ihr Blick nach dem Aufwachen auf ein altes Familienfoto, das in einer Ecke des Wohnzimmerschrankes stand. In den letzten Tagen war ihr das Bild nie aufgefallen. Darauf war eine jüngere Stella mit einem kleinen Baby im Arm zu sehen. Hinter den beiden stand ein braungebrannter Mann mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen.
Stella sah schnell weg. Sie wollte weder dieses Foto noch diesen Mann sehen. Zu viel Schmerz hatte er ihr zugefügt. Schnell stand sie auf und drehte das Foto mit dem Rahmen um.
Sie rieb sich die Augen und verscheuchte die Gedanken an Flavio. Er war der Letzte, an den sie denken
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