Lavendel und Blütenstaub
auf und versuchte tapfer zu lächeln. "Ich bin nur ein wenig müde. Das geht gleich wieder vorbei."
In diesem Moment erfasste sie wieder eine Welle der Übelkeit. Sie würgte. Erwin sprang auf, doch bevor er reagieren konnte, hatte Anna ins Bett erbrochen.
"Soll ich etwas holen? Irgendetwas tun?" Hilflos hob er die Hände.
Die Übelkeit hatte nachgelassen. Anna legte sich zurück und schob die beschmutzte Decke von sich. "Es geht schon." Sie schluckte. "Könntest du vielleicht ...?
"Was? Ach so, ja, natürlich." Mit spitzen Fingern nahm er die Decke und hob sie hoch, ohne dass etwas heraus tropfte. "Wo soll ich sie hingeben?"
"Im Keller steht die Waschmaschine. Stella kann sie dann einschalten."
Erwin ging, die Decke weit von sich haltend.
Anna atmete tief durch. Sie mochte es nicht, wenn sie auf andere angewiesen war. Noch mehr verabscheute sie jedoch, wenn andere sie so hilflos sahen. Würde das jemals wieder besser werden? Wohl kaum, eher noch schlimmer, bemerkte sie traurig.
Als Erwin zurück kam, brachte er die dünne Wolldecke von unten mit und deckte Anna zu.
"Ist dir noch übel?"
Wieder der mitleidige Blick.
"Nein, es geht schon. Danach ist es meist ein wenig besser."
"Hast du das öfter?"
Anna zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte sie: "Ja."
"Kann man da nichts dagegen tun?" Er klang besorgt.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, nicht wirklich. Das ist der Krebs. Er verursacht Übelkeit und Schmerzen."
"Hast du denn noch Schmerzen?"
"Nein, nicht, wenn ich ausreichend Tabletten nehme."
Erwin schwieg betroffen. "Darf ich dich etwas fragen, Mutter?"
"Natürlich." Sie lehnte sich in die Kissen zurück. Die Decke zog sie bis zum Kinn hoch.
"Stella ... sie ..." Er brach ab.
"Ja?"
"Hat sie dir das eingeredet, dass du keine Chemo machen sollst?" Seine Stimme war ruhig.
Anna spürte, dass es Erwin wichtig war, mit ihr darüber zu sprechen. "Nein", sagte sie. "ICH will keine Chemo machen. Und auch keine 'tumorverlangsamenden' Tabletten nehmen. Oder sonst etwas in diese Richtung."
"Aber warum?"
Erwin sah sie hilflos an. Und auch traurig, wie Anna bemerkte.
"Weil es nichts bringt." Sie klang resigniert.
"Aber woher willst du das wissen?"
"Weißt du, wie die Lebenserwartung bei Leberkrebs ist, Erwin? Weißt du es?"
Er nickte langsam.
"Das erwartet auch mich. Ob mit oder ohne Chemo. Es ist nur eine schmerzhafte Leidensverlängerung, wenn ich Ärzte an mir herumdoktoren lasse, wie bei einer Ratte im Versuchslabor."
"Aber ..."
"Nein, Erwin, sag' nichts. Sieh der Tatsache ins Auge: Ich bin schwerkrank und werde nicht mehr genesen."
Erwin schwieg und sah seine Mutter an. Die braunen Augen waren ausdruckslos. Leer. Die Hoffnung darin war verschwunden.
Anna wusste, sie hatte ihrem Sohn mit ihren Worten die letzte Hoffnung genommen, die er gehabt hatte.
Dr. Werneck
Die Augusthitze drückte schwer auf das Areal des städtischen Krankenhauses, obwohl die Klimaanlage in allen Gebäuden auf Hochtouren lief. Die Zahl der Einlieferungen ließ trotz der späten Stunde nicht nach. Ein typischer Sommerabend eben.
Er wusste, dass er eine lange Nacht vor sich haben würde. Bevor der nächste Notfall rief, wollte er sich noch einen schnellen Kaffee gönnen, als auch schon sein Telefon läutete.
"Werneck."
"Schwester Beate hier, von der Station. Wir hatten gerade einen Anruf von Frau Santo. Ihre Mutter klagt über starke Schmerzen und Atemnot. Sie sind auf dem Weg hierher."
"In Ordnung. Ich warte in der Ambulanz."
Zwanzig Minuten später parkte Stella ihren Wagen vor dem Gebäude C, wo abends die Notaufnahme geöffnet hatte. Ein Pfleger wusste Bescheid und stand schon mit einem Rollstuhl bereit.
Stella half ihrer Mutter aus dem Wagen. Anna stöhnte.
"Wir haben es gleich geschafft. Halte durch."
"Frau Lukas!"
Dr. Werneck eilte durch die Schiebetür. Er hatte statt des weißen Arztkittels ein enges graues T-Shirt an. Nur das Schild an der Brust wies ihn auf dem zweiten Blick als Arzt aus.
"Frau Lukas, wie geht es Ihnen?", fragte er besorgt. Er beugte sich zu Anna, die zusammengekauert in dem Rollstuhl saß und schwer atmete.
"Ich ... mein Bauch." Sie keuchte.
"Schon gut, wir helfen Ihnen. Gleich wird es Ihnen besser gehen, das verspreche ich."
Dr. Werneck veranlasste einen raschen Transport in ein Untersuchungszimmer und schloss Anna an eine Infusion. Sofort beruhigte sich ihr Atem. Während eine Schwester Annas Puls und Blutdruck maß, untersuchte Dr. Werneck ihren Bauch. Als er
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