Lavendel und Blütenstaub
den Bereich der Leber abtastete, hielt er in der Bewegung inne. Stella bemerkte dies.
"Ist etwas nicht in Ordnung?", fragte sie besorgt. Sie stand links neben Annas schmalem Bett und hielt ihre Hand.
Dr. Werneck sah auf. "Ich bin mir nicht sicher", sagte er wahrheitsgemäß. "Wie lange ist die Entlassung jetzt her?"
Stella dachte kurz nach. "Knapp zwei Wochen."
"Hm." Dr. Werneck tastete weiter den Bauch ab. Dann sagte er: "Brigitte, holen Sie bitte das Ultraschallgerät."
Die angesprochene Schwester eilte aus dem Raum.
Zwanzig Minuten später sah der Arzt ratlos auf die Bilder, die er sich während der Untersuchung ausgedruckt hatte. Annas Leber war fast doppelt so groß wie eine gesunde und das umliegende Gewebe von dunklen Schatten umgeben. Der Krebs musste sich explosionsartig vermehrt haben. So etwas Aggressives hatte er noch nie gesehen.
"Herr Doktor?" Stella war hinter ihm getreten.
Er saß am Schreibtisch und sah von den Unterlagen auf.
"Was ist mit meiner Mutter?"
"Setzen Sie sich doch." Er wies auf einen Stuhl neben sich.
Anna war in der Zwischenzeit, nach Abklärung mit Stella und der Stationsärztin, nach oben auf die Palliativstation gebracht worden und schlief dank eines Schlafmittels.
Dr. Werneck räusperte sich. "Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Santo."
"Stella. Sagen Sie bitte Stella zu mir."
"Stella. Das, was Ihre Mutter heute erlebt hat, die Schmerzen und die Atemlosigkeit, wird wohl in nächster Zeit öfter auftreten. Wie es aussieht, hat der Krebs sich stark in ihrem Bauchraum vermehrt. Wir müssen morgen abklären, wie die Metastasenbildung auf der Lunge vorangeschritten ist, aber wenn wir dort das gleiche Bild bekommen wie auf der Leber, dann ..." Er brach ab.
Stella sah ihn stumm an.
"... dann sieht es sehr, sehr schlecht aus", vollendete er den Satz.
Er blickte Stella offen ins Gesicht, dann senkte er den Blick und sah noch einmal auf die Unterlagen.
"Was ich nur nicht verstehe, ist, warum sich der Krebs bei Ihrer Mutter so schnell ausbreitet. Wo wohnt sie? Welche Lebensgewohnheiten hat sie? Was für Umwelteinflüsse? Gibt es irgendetwas, das auffällig ist?" Fragend sah er wieder zu Stella.
"Nein, nicht das ich wüsste. Sie wohnt außerhalb der Stadt, fast schon am Land, ernährt sich seit jeher gesund, hauptsächlich von ihrem Garten. Meinen Sie, es könnte einen Grund für diese rasche Verbreitung im Körper geben?"
"Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher." Er stockte. "Ich habe so etwas erst einmal bei einem Patienten erlebt, allerdings nicht in dieser kurzen Zeit."
Er schwieg und dachte an den Mann, der nur neun Wochen nach seiner Krebsdiagnose gestorben war. Er hatte das Gefühl gehabt, der Mann würde ihm unter den Händen wegsterben, so schnell waren der körperliche Abbau und die Tumorbildung vorangeschritten. Erst später hatte Dr. Werneck erfahren, dass ein Jahr zuvor die Frau des Patienten gestorben war. Ob da ein Zusammenhang bestand?
Zögernd fuhr Dr. Werneck fort. Er war unsicher, wie er die folgende Frage formulieren sollte. "Wie denkt Ihre Mutter über den Tod?"
Stella blickte verwirrt auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. "Wie meinen Sie das?"
"Nun, im Laufe meiner Arzttätigkeit habe ich festgestellt, dass Krankheiten schneller voranschreiten, wenn der Patient sich mit seinem Schicksal abfindet und quasi dem Tod entgegen sieht. Denken Sie, dass dies auch auf Ihre Mutter zutreffen könnte?"
"Hm, ich weiß nicht." Stella war verunsichert. "Meine Mutter ist seit der Diagnose schon sehr realistisch und erwartet sich bei ihren Prognosen keine Wunder, aber ..." Sie brach kurz ab. "Denken Sie, dass das eine so große Rolle spielt?"
Dr. Werneck zuckte mit den Schultern. "Es ist nur eine Vermutung. Es muss irgendeine Ursache für diese explosionsartige Vermehrung geben. Morgen haben wir genauere Befunde, dann sehen wir weiter."
Nachdem Stella gegangen war, um bei Anna im Zimmer auf einem Stuhl zu schlafen, ordnete Dr. Werneck die Unterlagen seiner Patientin. Er nahm die Papiere und ging nach oben zur Palliativstation. Er würde mit der Stationsärztin über die weiteren Schritte sprechen müssen. Die Zeit drängte und er wollte, dass Anna wenigstens die wenige Zeit, die ihr blieb, noch halbwegs fit erleben und nutzen konnte. Seiner Mutter war dies leider nicht vergönnt gewesen.
Maria Werneck
Ludwig Werneck war das einzige Kind von Maria. Sie war so stolz auf ihn gewesen, als er eine Laufbahn als Arzt eingeschlagen
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