Lavendel und Blütenstaub
Anna und ging. Er sagte kein Wort mehr.
Als Stella sein Auto wegfahren hörte, entspannte sie sich wieder. Sie fühlte Annas Blick, die sie in den letzten Minuten unentwegt angestarrt hatte. Sie konnte den Blick nicht recht deuten. War er vorwurfsvoll? Erleichtert? Enttäuscht?
"Musste das sein, Stella?" Vorwurfsvoll.
"Hast du eine Ahnung, was für einen Schrecken ich gekriegt habe? Ich dachte, dir ist wieder schlecht oder liegst vor Schmerzen gekrümmt im Haus! Was soll das?" Stella war immer noch aufgebracht. Die Sorge und Angst saßen ihr tief in den Gliedern.
Anna
Sie konnte Stellas Wutausbruch nicht nachvollziehen. Warum musste ihre Tochter auf Erwin nur so allergisch reagieren?
Energisch sah sie Stella an. "Kannst du mich bitte einmal erklären lassen?"
Stella verstummte. Sie wirkte überrascht über den ernsten Gesichtsausdruck.
"Erwin hat an der Tür geläutet, und da du beschäftigt warst, habe ich geöffnet. Er wollte mit mir reden, und ich hab ihn nach oben gebeten."
Stella öffnete den Mund um etwas zu sagen.
Anna hob gebieterisch ihren knochigen Finger. "Scht, lass mich ausreden! Ich weiß, dass ich sehr, sehr krank bin, und das wisst ihr alle auch. Es ist nicht leicht, weder für euch, noch für mich. Aber das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, sind eure Streitigkeiten! Ich habe dich und Erwin gestern im Garten gehört und auch jetzt spüre ich deinen Unmut über Erwin mehr als deutlich."
Stella blickte betroffen auf ihre Hände, die nervös in ihrem Schoß lagen. Sie hatte sich neben Anna aufs Bett gesetzt.
"Ich verlange nicht, dass du und Erwin sofort alles vergesst und wieder gut seid, das steht mir nicht zu und wird auch nicht möglich sein. Zu tief ist dein Kummer über Papa, und zu groß die Schuld, die du Erwin dafür gibst. Aber bitte, bitte!, versucht mir zuliebe wenigstens den Streit kurz beiseite zu schieben und wenigstens halbwegs friedlich zu sein!" Flehentlich blickte sie Stella an. "Wenigstens solange ich noch lebe", fügte sie leiser hinzu.
Stella fiel ihrer Mutter um den Hals. "Ach, Mama, sag doch so etwas nicht." Tränen flossen über ihre Wangen.
"Bitte, Stella, tu es für mich", flüsterte Anna und drückte sie fest an sich. Dann nahm sie Stellas Schultern und blickte ihr tief in die Augen. "Du weißt, dass ich Erwin verziehen habe. Er ist seinen Weg gegangen und ich habe es akzeptiert. Dafür, dass euer Vater ein Magengeschwür hatte und starb, kann er nichts. Vielleicht schaffst du es irgendwann, ihm zu verzeihen, vielleicht aber auch nicht. Lass wenigstens den Groll in dir nicht die Herrschaft über dein Gemüt haben. Du tust dir damit selbst keinen Gefallen. Und jetzt geh, ich möchte mich hinlegen." Abrupt beendete Anna das Gespräch und Stella stand verwirrt auf.
Leise lauschte Anna den Schritten ihrer Tochter, die langsam nach unten ging. Sie war sich sicher, dass Stella über das Gesagte nachdenken würde. Ob es Früchte trug, stand in den Sternen. Anna konnte nicht mehr tun, als nach und nach den Samen zu streuen, um nach ihrem Ableben eine glückliche Familie zurück zu lassen.
Ihr war seit der Diagnose bewusst, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Im Gegensatz zu Erwin war Anna dankbar, dass Dr. Werneck und auch Dr. Becker so ehrlich zu ihr waren. Sie hätte es nicht ertragen, wenn sie angelogen worden wäre. Was würde es bringen, wenn jeder ihr eine mögliche Heilung vorgaukelte, sie aber stattdessen keine Zeit hatte, Dinge zu erledigen? Ihr war lieber, alles geordnet zurück zu lassen, und dazu gehörte auch der Friede und die Liebe innerhalb ihrer Familie.
Anna griff zu ihrem Nachtkästchen und öffnete die oberste Schublade. Ein kleines, in Leder gebundenes Buch kam zum Vorschein. Es war schon alt und das Leder abgegriffen. Es war ein Vermächtnis ihres Mannes und Anna führte das weiter, was Johann begonnen hatte.
Langsam öffnete sie die erste Seite. "So soll es sein" stand in gut leserlicher, aber etwas verblasster Handschrift auf dem vergilbten Papier. Anna blätterte um. Oben rechts stand ein Datum. "25. Dezember 1950." Ein Tag nach Weihnachten.
Johann hatte dieses Büchlein von seinen Eltern bekommen. Sein Vater hatte ihm dazu eine Geschichte erzählt: "Bub, ich sag dir was: Als ich ein Kind war, hat mein Vater, also dein Großvater, gesagt, dass ich mir alles wünschen kann, was ich will, es wird dann so geschehen. Ich müsse nur den Wunsch als Tatsache formulieren und meine Gedanken mit Bedacht wählen. Und ich sage dir, es
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