Lavinia & Tobais 01 - Liebe wider Willen
Schwager, Anthony Sinclair, blickte von dem dicken Wälzer auf, der sich mit ägyptischen Antiquitäten befasste. Er räkelte sich lässig und entspannt in dem Stuhl, wie es nur ein gesunder junger Mann von einundzwanzig Jahren tun konnte.
Anthony war im letzten Jahr in seine eigene Wohnung gezogen. Eine Zeit lang hatte Tobias befürchtet, dass es in seinem Haus einsam werden würde. Immerhin lebte Anthony schon bei ihm, seit er ein Kind war, seit seine Schwester Anne Tobias geheiratet hatte. Nachdem Anne gestorben war, hatte Tobias sein Bestes getan, den Jungen großzuziehen. Er hatte sich daran gewöhnt, ihn immer um sich zu haben. Das Haus würde eigenartig leer sein ohne ihn.
Doch zwei Wochen nachdem er in seine eigene Wohnung gezogen war, die nur wenige Häuserblocks entfernt lag, war deutlich geworden, dass Anthony Tobias' Haus noch immer als eine Erweiterung seiner eigenen Wohnung ansah. Er tauchte sehr oft zu den Mahlzeiten in Tobias' Wohnung auf. »Ungewöhnlich?«, wiederholte Anthony jetzt.
»Lavinia Lake ist alles andere als unschuldig.«
»Nun, du hast doch gesagt, sie sei eine Witwe.«
»Ich wüsste gern mehr über das Schicksal ihres Mannes«, meinte Tobias. »Ich wäre nicht überrascht, wenn ich erfahren würde, dass er seine letzten Tage gefesselt an ein Bett in einer privaten Anstalt verbracht hat.«
»Du hast heute Morgen sicher schon hundert Mal erklärt, dass du misstrauisch bist, wenn es um Mrs. Lake geht«, meinte Anthony sanft. »Wenn du so sicher bist, dass sie gestern Abend einen Hinweis gefunden hat, warum hast du sie dann nicht darauf angesprochen?«
»Weil sie es natürlich verneint hätte. Die Lady hat nicht die Absicht, in dieser Angelegenheit mit mir zusammenzuarbeiten. Ich hätte sie höchstens auf den Kopf stellen und ein paar Mal schütteln können, anders hätte ich nicht beweisen können, dass sie einen Hinweis gefunden hat.«
Anthony sagte nichts mehr. Er saß einfach da und betrachtete Tobias mit einem nachdenklichen Ausdruck.
Tobias biss die Zähne zusammen. »Sag es nicht.«
»Ich fürchte, ich kann nicht anders. Warum hast du die Lady nicht auf den Kopf gestellt und geschüttelt, damit das herausfiel, was auch immer es war, was sie gefunden hat?«
»Verdammte Hölle, wenn du das sagst, dann klingt es so, als wäre es meine Gewohnheit, anständige Frauen auf den Kopf zu stellen.«
Anthony zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe dir bei mehr als nur einer Gelegenheit gesagt, dass du ein wenig mehr Feingefühl brauchst, wenn es um Frauen geht. Aber trotzdem benimmst du dich einigermaßen wie ein Gentleman. Mit Ausnahme von Mrs. Lake. Wann immer ihr Name fällt, wirst du außergewöhnlich grob.«
» Mrs. Lake ist eine wirklich außergewöhnliche Frau«, erklärte Tobias. »Außergewöhnlich willensstark, außergewöhnlich störrisch und außergewöhnlich schwierig. Sie würde jeden gesunden Mann zur Verzweiflung treiben.«
Anthony nickte mit einem Anflug mitleidigen Verständnisses. »Es ist immer wieder so verdammt irritierend, wenn man seine eigenen herausragenden Charakterzüge so deutlich in einem anderen Menschen wiedererkennt, nicht wahr? Ganz besonders, wenn dieser Mensch der Angehörige des schwächeren Geschlechtes ist.«
»Ich warne dich, ich bin nicht in der Stimmung, dir heute Morgen als Quell der Erheiterung zu dienen, Anthony.«
Anthony schloss das Buch, in dem er gelesen hatte, mit einem leisen Laut. »Du bist besessen von dieser Lady, seit den Vorfällen in Rom vor drei Monaten.«
»Besessen ist sehr übertrieben, und das weißt du recht gut.«
»Das glaube ich nicht. Whitby hat mir genau beschrieben, wie du getobt und geschimpft hast, als er dich gesund gepflegt hat nach dem Fieber, das du von deiner Wunde bekommen hast. Er hat gesagt, du hättest während deines Fiebers einige längere, einseitige und höchst unverständliche Unterhaltungen mit Mrs. Lake geführt. Seit deiner Rückkehr hast du einen Grund gefunden, ihren Namen wenigstens einmal am Tag zu erwähnen. Ich würde sagen, das kann man schon besessen nennen.«
»Ich war gezwungen, beinahe einen ganzen Monat hinter dieser entsetzlichen Frau in Rom herzulaufen und jede ihrer Bewegungen zu beobachten.« Tobias umklammerte die geschnitzte Kante seines Schreibtisches. »Versuch du einmal, einer Frau über einen solch ausgedehnten Zeitraum zu folgen und dabei jeden Menschen zu registrieren, den sie auf der Straße begrüßt, jeden Einkaufsbummel zu verfolgen.
Und die ganze Zeit über fragst
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