Lavinia & Tobais 01 - Liebe wider Willen
Jeder wusste, dass Künstler exzentrisch waren und sehr temperamentvoll werden konnten.
Wieder erschienen Mrs. Vaughns Grübchen. Sie machte eine beruhigende Geste mit der Hand. »Sie brauchen sich keine Sorgen darüber zu machen, dass Sie mich vielleicht beleidigen könnten, Mrs. Lake. Ich bin mir wohl bewusst, dass meine Arbeiten nicht nach jedermanns Geschmack sind.«
»Aber ganz sicher sind sie interessant«, meinte Tobias.
»Dennoch habe ich den Eindruck, dass Sie nicht die Absicht haben, mir ein Honorar für ein Familienporträt zu bieten.«
»Sie sind eine sehr aufmerksame Frau, Mrs. Vaughn.« Tobias betrachtete den elegant modellierten Hals der Frau mit dem Fächer. »Vielleicht haben Ihre Figuren deshalb so große Ähnlichkeit mit dem Leben.«
Mrs. Vaughn lachte noch einmal perlend. »Ich bin stolz darauf, die Wahrheit lesen zu können, die unter der Oberfläche liegt. Sie haben Recht - diese Fähigkeit ist der Schlüssel dazu, ein gutes Porträt zu schaffen. Aber man braucht mehr als nur diese Einsicht, um eine Figur zum Leben zu erwecken. Man braucht sehr viel Detailarbeit. Die kleinen Linien in den Augenwinkeln. Die genaue Platzierung der Venen, damit es so aussieht, als würde Blut darin fließen. Auf solche Sachen muss man achten.«
Tobias nickte. »Ich verstehe.«
Lavinia dachte an die außergewöhnliche Vielfalt der Einzelheiten in dem Bild aus Wachs, das sie noch immer in der Hand hielt, und sie erstarrte. Was wäre, wenn das Schicksal sie direkt zu dem Mörder geführt hätte? Von der anderen Seite des Raumes fing sie Tobias' Blick auf. Er schüttelte leicht mit dem Kopf.
Sie holte tief Luft, um sich zu fassen. Er hatte natürlich Recht. Es wäre ein viel zu großer Zufall. Doch wie viele Künstler gab es in London, die mit Wachs arbeiteten? So groß konnte die Zahl doch gar nicht sein. Emeline hatte ohne zu zögern Mrs. Vaughn an die erste Stelle der Liste der fähigsten Künstler gesetzt.
Als hätte Mrs. Vaughn Lavinias Gedanken gelesen, sah sie mit einem wissenden Blick Lavinia an und lächelte breit. Lavinia schüttelte das Gefühl des Unbehagens ab. Was um alles in der Welt war nur los mit ihr? Sie ließ es zu, dass sich ihre Gedanken verwirrten. Es war unmöglich, sich diese kleine, fröhliche Frau als Mörderin vorzustellen.
»Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Sie genau darüber zu befragen, Mrs. Vaughn«, sagte sie.
»Über künstlerische Einzelheiten?« Mrs. Vaughn strahlte. »Wie interessant. Ich liebe nichts mehr, als über meine Kunst zu reden.«
Lavinia legte das Päckchen auf einen Tisch in der Nähe. »Wenn Sie so freundlich sein würden, sich diese Wachsarbeit anzusehen und uns dann vielleicht zu sagen, was Sie über den Künstler wissen, der sie geschaffen hat, wären wir Ihnen sehr dankbar.«
»Die Arbeit ist nicht signiert?« Mrs. Vaughn kam näher an den Tisch. »Wie ungewöhnlich.«
»Ich denke, Sie werden verstehen, warum der Künstler sein Werk nicht signiert hat, wenn Sie das Bild sehen«, meinte Tobias ein wenig spöttisch.
Lavinia öffnete das Band, das das Tuch zusammenhielt. Der Stoff fiel zur Seite und enthüllte die unangenehme Szene.
»Oje.« Mrs. Vaughn zog eine silberne Brille aus der Schürzentasche und schob sie auf die Nase. Sie nahm den Blick nicht von dem Bild. »Oje.«
Besorgte Falten erschienen auf ihrer Stirn. Sie nahm das Bild hoch und trug es auf die andere Seite des Raumes, wo sie es auf das Klavier stellte. Lavinia folgte ihr. Sie stand hinter Mrs. Vaughn und sah, wie die Flammen in dem Kandelaber ein flackerndes Licht über den Miniatur-Ballsaal und die tote Frau in dem grünen Kleid warfen.
»Kann ich davon ausgehen, dass dies keine Szene aus einem Schauspiel oder einem Roman darstellt?«, fragte Mrs. Vaughn, ohne den Blick von der Arbeit zu nehmen.
»Sie vermuten richtig.« Tobias trat neben Lavinia. »Wir glauben, dass es eine Drohung sein soll. Wir möchten den Künstler finden, der das Bild geschaffen hat.«
»In der Tat«, flüsterte Mrs. Vaughn. »In der Tat. Ich kann verstehen, dass Sie diesen Wunsch haben. Es liegt etwas Böses in dem kleinen Werk. Große Wut. Großer Hass. Wurde es an Sie geschickt, Mrs. Lake? Nein, das kann nicht sein. Das Haar ist blond und wird langsam silbern. Sie sind noch eine junge Frau, und Ihr Haar ist recht rot, nicht wahr?«
Tobias warf Lavinias Haar einen rätselhaften Blick zu. »Es ist sehr rot.«
Sie bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Es besteht keine Notwendigkeit, persönlich zu
Weitere Kostenlose Bücher