Lavinia & Tobais 03 - Skandal um Mitternacht
schenkte ihr ein hintergründiges Lächeln. »Hätten Sie zufällig ein paar von Ihren hervorragenden Johannisbeertörtchen übrig? Von denen träume ich seit unserer Einkehr im Gasthaus.«
Mrs Chilton bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. »Ein Wunder, dass Sie noch die Energie aufbringen, Törtchen zu verspeisen, Sir ... nach einer derart langen, ermüdenden Fahrt.«
»Vales Kutsche ist so gut gefedert, dass ich mich ein wenig ausruhen konnte.«
Diese munter geäußerte Unwahrheit veranlasste Lavinia, die Stirn zu runzeln. Tobias hatte auf der Fahrt kein Auge zugetan. Sie hatten die meiste Zeit damit verbracht, sich Strategien für den neuen Fall zurechtzulegen.
Mrs Chilton ließ ein Zungenschnalzen hören und schüttelte den Kopf. »Ich habe eventuell noch ein oder zwei Törtchen von jenen übrig, die ich für ihren Proviantkorb machte.«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Mrs Chilton«, sagte Tobias ein wenig zu demütig.
Lavinia beobachtete die beiden mit Argusaugen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Grund zu der Vermutung hatte, ihr entginge ein geheimer Scherz, den die beiden teilten. Tobias und Mrs Chilton waren nicht die Einzigen, die unerklärlich belustigt schienen. Anthony betrachtete eingehend den Boden, während es um seine Mundwinkel zuckte, und Emeline drehte sich plötzlich um und platzierte ihr gelbes Hütchen auf einen Haken.
Lavinia reichte es. Sie stützte die Hände in die Hüften und musterte Tobias aus zusammengekniffenen Augen. »Wieder Johannisbeertörtchen? Lassen Sie sich gesagt sein, Sir, dass Sie seit ein paar Wochen geradezu besessen davon sind. Ständig verlangen Sie, Mrs Chilton solle irgendeine Leckerei mit Johannisbeeren machen. Es hat schon jede Menge Marmelade, Kuchen und Törtchen mit den Beeren gegeben, um eine Armee damit zu verköstigen.«
»Offenbar fehlt mir etwas auf meinem Speisezettel, das nur Johannisbeeren befriedigen können«, sagte Tobias.
»Ich bringe das Tablett in die Bibliothek«, entschied Mrs Chilton ungerührt.
Damit eilte sie in die Küche.
Lavinia entschloss sich widerstrebend, das Thema vorläufig fallen zu lassen. Es gab andere, vordringlichere Dinge.
Sie lief in ihr Arbeitszimmer voraus, warf das Notizbuch, das sie ihrem Ridikül entnahm, auf ein Tischchen und steuerte direkt zum Sherryschrank.
»Wir werden euch die ganze Geschichte berichten«, versicherte sie Anthony und Emeline. »Aber erst brauchen Tobias und ich eine kleine Stärkung.«
»Das will ich nicht bestreiten«, sagte Tobias. Er ließ sich im großen Sessel nieder und stützte den linken Fuß auf einen Hocker, um es sich bequem zu machen, wie es neuerdings seine Gewohnheit geworden war.
Lavinia war noch nicht sicher, was sie von der Selbstverständlichkeit halten sollte, mit der er sich mittlerweile in ihr tägliches Leben einfügte. Es hatte sich allmählich im Laufe der letzten
Monate entwickelt. Tobias besaß ein sehr hübsches Haus ein Stück weiter in der Slate Street, doch schien er immer weniger Zeit dort zu verbringen. Stattdessen hatte er es sich angewöhnt, an ihre Tür zu pochen, wann es ihm beliebte.
Sie beschwerte sich oft bei Emeline und Mrs Chilton, wie oft er es fertig brachte, ausgerechnet dann aufzutauchen, wenn das Frühstück serviert wurde. Ohne zu zögern, nahm er bei Tisch Platz und bediente sich ungeniert mit Kaffee und Eiern. Er hatte auch das unheimliche Gespür, aufzutauchen, wenn sie allein im Haus war. Sein Zeitgefühl ist echt bemerkenswert, überlegte sie. Er schien genau zu wissen, wann Mrs Chilton und Emeline nicht da sein würden. Dieses Alleinsein nutzte er oft, um sich leidenschaftlich, wenn auch ein wenig hastig, mit ihr der Liebe hinzugeben.
Sie erklärte lautstark allen, die es hören wollten, wie enervierend es sei, Tobias ständig um sich zu haben. In Wahrheit hatte sie sich an seine Anwesenheit im Haus längst gewöhnt.
Das Wissen, dass sie es im Innersten sehr genoss, ihn um sich zu haben, war allerdings ziemlich beunruhigend.
Vor zehn Jahren, als sie John geheiratet hatte, waren ihr diese Bedenken fremd. Sie hatte sich in den sanftmütigen Poeten verliebt und die Ehe war ihr als logischer Höhepunkt ihrer romantischen Beziehung erschienen.
Doch die Verbindung hatte nur eineinhalb Jahre gedauert, da John einem Lungenleiden erlegen war. Vier Jahre lang hatte sie sich allein durchgeschlagen, dann war Emeline zu ihr gezogen. Sie wusste, dass die Aufgabe, das Leben allein zu meistern und sich um ihre Nichte zu kümmern, sie
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