Lawinenexpreß
näher am Nordende der Gefahrenzone«, erwiderte Springer. »Los, rufen Sie den Lokführer an – sagen Sie ihm, daß ich Höchstgeschwindigkeit haben will…«
Thall verließ das Abteil, rannte den Gang entlang zum Funkabteil, in dem eine direkte Telefonverbindung zum Führerstand der Lok hergestellt worden war. Nachdem er in seinem Abteil allein war, machte Springer das Licht aus, zog den Vorhang hoch und öffnete das Fenster. Er achtete nicht auf den hereinströmenden Schwall eiskalter Luft und starrte das furchterregende Schauspiel an, das sich im Mondschein bot.
Da war kein dramatisches Grollen, keine rasend schnelle Bewegung, sondern nur das gleichmäßige Rutschen eines ganzen Bergs, der sich auf den Schienenstrang zubewegte. Es war, als käme eine große Flutwelle im Zeitlupentempo auf ihn zu, eine Flutwelle aus Gestein und Schneemassen, ein Erdrutsch mit Millionen Tonnen von Schnee. Als Springer nach oben blickte, erreichte die Lawine die Baumgrenze, die ersten Bäume eines großen Tannenwalds, der sich auf den unteren Hängen ausbreitete. Wie eine riesige Meeresflutwelle überspülte der Schnee die Tannen, und Springer wußte, daß unter dieser weißen Welle große, in Jahrzehnten herangewachsene Bäume wie Streichhölzer zermalmt wurden. Dann sah er etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Schneelawine erreichte einen riesigen Felsvorsprung. Statt sich über ihm in die Tiefe zu ergießen, riß sie den Felsvorsprung mit. Da ging Springer auf, daß dies keine gewöhnliche Lawine war, mochte sie auch gigantische Ausmaße haben: Das halbe Wasserhorn kam zu Tal, dies war eine Steinlawine, die Geschichte machen würde. Er drehte sich um, als Thall die Abteiltür aufriß.
»Wir kommen nicht zum Lokführer durch…«
»Warum denn nicht, zum Teufel?«
»Er nimmt nicht ab…«
In diesem Augenblick wurde der Expreß, der gerade eine Steigung nahm, noch langsamer, dann hielt er. Wenige Sekunden später begann er, rückwärts zu rollen, zurück in den am meisten gefährdeten Streckenabschnitt.
Im Führerstand der Lokomotive mit der Achsanordnung Bo-Bo, die den Atlantik-Expreß die Steigung hinaufzog, befanden sich zwei Männer. Sie hatten wenig zu tun und mußten nur die Meßgeräte im Auge behalten und auf die vor ihnen liegenden Signale achten. Das Motorengeräusch hatte jeden Laut der herunterstürzenden Lawine erstickt. Enrico, der erste Lokführer, machte gerade die Hände mit einem Putzlappen sauber, als Freys Mann auf die Lok sprang und in den Führerstand stürzte. Enrico starrte ungläubig, als der Mann seinem Kollegen mit dem Lauf seiner Pistole einen brutalen Schlag auf den Kopf versetzte und ihm den Schädel spaltete. Der Mann richtete die Waffe auf Enrico. »Drehen Sie sich um…« Der Lokführer gehorchte, worauf der Saboteur ihm einen schweren Schlag versetzte, von dem er meinte, er habe den Lokführer getötet. Dieser sank zu Boden, war aber nur halb betäubt, da der Lauf abgeglitten war. Der Mann Freys, Anton Gayler, studierte kurz die Meßgeräte, bewegte dann einen Hebel und schließlich zwei weitere, nachdem der Expreß zum Stehen gekommen war.
Der Atlantik-Expreß rollte zurück.
Gayler, ein kleinwüchsiger, stämmiger Mann mit vorstehenden Zähnen, fürchtete nicht, von der Lawine erfaßt zu werden; östlich des Schienenstrangs, nur wenige Meter entfernt, wartete ein Fahrer am Steuer eines mit laufendem Motor wartenden Fiats darauf, Gayler aufzunehmen und ihn auf der Ostseite der Schlucht aus der Gefahrenzone und vor der Lawine in Sicherheit zu bringen. Als der Expreß seine langsame Rückwärtsfahrt fortsetzte, sah Gayler auf der Westseite des Führerstands aus dem Fenster. Auf dem Bahndamm liefen mehrere uniformierte Männer auf ihn zu. Einer von ihnen, ein Zivilist, rannte weit vor den anderen. Gayler nahm seine Waffe und zielte.
»Schicken Sie Soldaten zum Führerstand…«, befahl Springer und schob sich an Thall vorbei auf den Gang. Es war aber der Oberst, der den Zug als erster verließ. Er öffnete eine Tür am Ende des Waggons, trat aufs Trittbrett und sprang dann vorsichtig aus dem langsam zurücksetzenden Expreß auf den Bahndamm. Er hatte noch vierzehn Waggons vor sich, bevor er die Lokomotive erreichte. Zielstrebig lief er an den Gleisen entlang. Seine neunschüssige 32er Browning Automatik hielt er schußbereit in der Hand. In seinem Wettlauf gegen die Zeit hatte er aber einen Vorteil auf seiner Seite – der Expreß rollte rückwärts und kam ihm entgegen,
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