Lawinenexpreß
so daß die Lokomotive schnell immer näher kam.
Er war schon recht nah an die Lok herangekommen, als er die Silhouette eines Mannes sah, der sich aus dem Führerstand lehnte, eine Silhouette ohne Eisenbahnermütze oder Uniform, eine Silhouette, die mit irgend etwas auf ihn zielte. Springer duckte sich, lief aber weiter, hörte einen Schuß, dann noch einen, während neben ihm Schotter aufgewirbelt wurde. Springer hörte plötzlich auf zu laufen, riß seine Automatik hoch, nahm sie ruhig in beide Hände und feuerte. Irgend etwas – die Pistole des Mörders – fiel aus dem Fenster und landete auf dem Bahndamm.
Gayler, der sich in den Führerstand zurückgezogen hatte, fluchte und taumelte zur anderen Seite des Führerstands hinüber. Die Knöchel seiner rechten Hand waren zerschmettert, und er blutete. Mit der linken Hand ließ er sich aus dem Führerstand auf den Bahndamm hinab und stolperte dann auf die nahe Straße. Zwölf Meter entfernt stand ein Fiat mit laufendem Motor, dessen Fahrer ihn bereits erwartete. Gayler keuchte vor Erleichterung über sein Glück, so nahe beim Fluchtfahrzeug ausgestiegen zu sein.
Auf der Ostseite des Zuges war ein Abteilfenster geöffnet worden. Das Abteil war dunkel. Der Schatten des Oberkörpers eines Mannes erschien im Fenster, das durch das Waggondach vorm Mondschein geschützt wurde. Eine Hand ragte heraus. Als Gayler auf den wartenden Fiat zustolperte, wurde ein Schuß abgefeuert, und Anton Gayler fiel tot auf die Straße. Ein zweiter Schuß wurde abgefeuert. Der Mann im Fiat sackte tot hinterm Lenkrad zusammen. Dies war Scharfschützenqualität von der Art, wie sie dem toten Phillip John zugeschrieben gewesen war. Die Gestalt im Dunkeln zog sich zurück, und das Fenster wurde geschlossen.
Der Expreß rollte noch immer rückwärts, als Springer in den Führerstand kletterte. Er erfaßte die Szene mit einem Blick. Ein Mann vermutlich tot; Enrico, der erste Lokführer, bewegte sich schwach auf dem Fußboden, als er sich allmählich von dem Schlag erholte, der ihn nur gestreift hatte. Springer kniete neben ihm nieder und schüttelte ihn unsanft.
»Reißen Sie sich zusammen – und zwar schnell. Ich muß den Zug schnell wieder in Fahrt bringen – vorwärts. Eine Lawine kommt auf uns zu. Kommen Sie auf die Beine, Mann, um Gottes willen. Was muß ich tun, um den Expreß vorwärts fahren zu lassen…«
Enrico richtete sich mit einer ungeheuren Kraftanstrengung auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Führerstand. Er zeigte auf etwas. Springer ergriff einen Hebel. Ein Kopfschütteln. Eine Handbewegung. Springer griff nach einem anderen Hebel. Enrico nickte, versuchte zu rufen: »Vorsicht…« Springer legte den Hebel um, und der Expreß blieb mit kreischenden Bremsen ruckartig stehen. Weitere Handbewegungen. Springers Hand bewegte sich von Hebel zu Hebel, bis Enrico nickte. Der stehende Expreß begann langsam anzufahren, so langsam, daß Springer entsetzt war. Der Zug schien kaum von der Stelle zu kommen. Nach ihm waren zwei Schweizer Soldaten in den Führerstand gekommen, und einer versuchte, Enrico Erste Hilfe zu geben. Der Lokführer, ein stämmiger Mann aus Basel, winkte aber ab und rappelte sieh auf, um Springer zu helfen.
»Wer sind Sie?« fragte er.
»Militärischer Geheimdienst…« Das war nicht die Antwort, die Springer unter normalen Umständen gegeben hätte, aber er wollte den Mann beeindrucken und ihm klarmachen, daß dies eine extreme Notsituation war. »Ich wünsche, daß Sie die Motoren mit voller Kraft laufen lassen«, sagte Springer heftig. »Eine Lawine kommt direkt auf uns zu…«
»Könnte gefährlich sein auf diesem Streckenabschnitt…« Der Lokführer bewegte dennoch die entsprechenden Hebel; vielleicht war ihm plötzlich aufgegangen, daß Lawinen noch gefährlicher sein können. Die Räder begannen, sich ein wenig schneller zu drehen; Springer spürte, wie die gewaltige Kraft der Motoren die Stahlplatten unter seinen Füßen erzittern ließ. Der Lokführer war seinen Anweisungen aufs Wort gefolgt, und der Atlantik-Expreß rollte jetzt eine steile Steigung hinauf, aber noch immer beängstigend langsam; er rumpelte über mehrere Brücken, die weite Schlünde überspannten, schwankte in den langgezogenen Kurven, während die Anzeigenadeln der Instrumente erzitterten. Verschiedene Nadeln waren, wie Springer bemerkte, über rote Markierungen hinausgegangen: Ein Anzeichen dafür, welch enorme Spannungen aufgebaut wurden. Er ging zur Westseite des
Weitere Kostenlose Bücher