Lawinenexpreß
Indem so im Westen ständig die Unruhe geschürt wird, kann die sowjetische Propaganda die Lebensbedingungen im Westen mit den ›friedlichen Zuständen‹ in der Sowjetunion vergleichen, einem ›Frieden‹, der durch den engmaschigen polizeistaatlichen Apparat des KGB gewährleistet wird. Die terroristische Geiger-Gruppe, die in der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Anschläge verübt hatte, war ein hervorragendes Beispiel für diese Politik.
Sie wurde von Rolf Geiger angeführt, einem Armenier, dessen wirklicher Name Dikran Kikojan war. Die Gruppe hatte kurz vor dem Grenzübertritt nach Holland gestanden, um dort Anschläge zu verüben, als Geiger – der sein neues Hauptquartier in Amsterdam bereits eingerichtet hatte – Scharpinskys frühe Warnmeldung aus dem Hotel Schweizerhof in Zürich erhielt. Bereiten Sie einen Plan zur Zerstörung des Atlantik-Expreß vor. Warten Sie auf weitere Nachricht.
In Amsterdam war es Mitternacht – der Atlantik-Expreß rollte gerade auf den Baseler Bundesbahnhof zu, und wenige Kilometer weiter südlich von Amsterdam, in Den Haag, hatte General Max Scholten soeben von der Kursänderung der Maxim Gorkij erfahren. Rolf Geiger stand im dritten Stock eines alten Hauses am Fenster und ging die Pläne durch, die er entwickelt hatte. Vom Fenster aus blickte er auf einen Kanal; gegenüber, auf der anderen Seite, standen fünfstöckige Lagerhäuser mit großen Flaschenzügen über Doppeltüren. Die Flaschenzüge hatten einmal dazu gedient, Waren in die Lagerhäuser zu befördern. In diesem Augenblick tuckerte ein Patrouillenboot der Polizei unter einer gewölbten Brücke hindurch und passierte dann das Fenster, an dem Geiger stand. Hinter ihm telefonierte sein Assistent Joop Kist, ein kleiner, schmalgesichtiger Mann von dreißig, mit dem Amsterdamer Bahnhof. Kist bedankte sich und legte auf.
»Sie erwarten den Atlantik-Expreß für zehn Uhr morgen früh…«
»Gut. Schick Erika zu mir und bleib mit dem Funker unten, bis ich dich rufe.«
Geiger war ein kleiner, lebhafter Mann Anfang der Fünfzig. Sein Gesicht war hager; er hatte eine lange Nase und einen Schnurrbart, dessen Farbe der seines sorgfältig gepflegten Kopfhaars entsprach. Geiger entsprach kaum dem Bild, das sich der Mann auf der Straße von einem Terroristenchef macht. In London wäre er als Dandy durchgegangen, und mit seinen höflichen Manieren und seiner Fähigkeit, Mädchen zum Lachen zu bringen, hatte er auch einigen Erfolg bei Frauen. Joop Kist, seine jüngste Neuerwerbung, hatte er absichtlich weggeschickt, weil er seine Pläne mit Erika Kern besprach. Kist war vor allem wegen seiner holländischen Muttersprache unentbehrlich.
Geiger wandte sich vom Fenster ab, als die junge Frau eintrat. Erika Kern, eine attraktive dunkelhaarige Frau mit einer vollen Figur, war zweiunddreißig Jahre alt und gebürtige Ostdeutsche. Sie war außer Geiger das einzige Gruppenmitglied, das davon wußte, daß die Bande vom sowjetischen GRU kontrolliert wurde. Die anderen – ›Bauern‹, wie Geiger sie mitunter abschätzig nannte – lebten in der Vorstellung, sie kämpften für die Befreiung unterdrückter Völker in aller Welt – was die Bewohner der Sowjetunion nicht einschloß.
»Alles vorbereitet für den Fall, daß wir in Aktion treten müssen?« fragte Geiger.
»Ja«, erwiderte Erika energisch. »Erstens wird der Expreß nach Belgien umgeleitet werden müssen, damit gesichert ist, daß er über die Maasbrücke fährt. Das ist erledigt.«
»Geh noch mal alles durch…«
»In Willich sind vier Männer mit Sprengstoff zurückgeblieben, um den Bahndamm nördlich von Düsseldorf in die Luft zu sprengen – das bedeutet, daß sie den Expreß ab Köln über Brüssel umleiten müssen. Dann wird er über die Maasbrücke nach Amsterdam weiterfahren.«
»Und die Hauptgruppe?« wollte Geiger wissen.
»Befindet sich schon in Dordrecht – nahe an der Maas und mit genügend Sprengstoff ausgerüstet, um drei Brücken kilometerhoch in die. Luft zu jagen. Der ganze Expreß wird im Fluß versinken. Was ist mit Uniformen?«
»Die üblichen.« Geiger lächelte und strich sich über den Schnurrbart. »Wenn man uns sieht, wollen wir wenigstens unser Erkennungszeichen zurücklassen.«
Die Wahl der ›Uniform‹ war ein Teil der Vorliebe Geigers für die Verbreitung von Angst und Schrecken gewesen, als er noch in der Bundesrepublik operierte – damals hatte die Gruppe Banken und öffentliche Gebäude in die Luft gesprengt und Geiseln
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