Lawinenexpreß
Schneid, dachte er. Mit dem zusammengerollten Funkspruch in der zum Teil ausgehöhlten Zigarre, die er gerade rauchte, verließ Bühler das Abteil. Der Expreß befand sich kurz vor Karlsruhe und wurde schon langsamer. Der deutsche Hundeführer, der wieder im Gang stand, sah nichts Merkwürdiges an einem Reisenden, der aussteigen wollte.
Zu dieser frühen Morgenstunde verließ nur eine Handvoll Reisende den Zug. Rudi Bühler verließ den Bahnhof, ging ein paar hundert Meter zu Fuß und setzte sich dann auf den Rücksitz eines BMW, der sofort losfuhr. Bühler drückte seine Zigarre mit dem Funkspruch aus. Eine Minute später folgte ein als Kühlwagen getarnter Funkpeilwagen dem BMW – ein wenig verspätet, weil der Fahrer Mühe gehabt hatte, den Motor in Gang zu bekommen. Hauptmann Wander hatte den Karlsruher Hauptbahnhof mit verschiedenen BND-Fahrzeugen umstellen lassen. Jeder einzelne Reisende, der den Zug verlassen hatte, wurde beschattet.
Als sie vor einem Mietshaus ankamen, eilte Bühler hinein und ging die Treppen zum fünften Stock hinauf, wo sein Funker mit dem Sendegerät wartete. Wie er zu Scharpinsky gesagt hatte, war der Funkspruch überlang. Kurz vor dem Ende des Funkspruchs hatten zwei Funkpeilwagen den Sender lokalisiert. Bühler hatte die verschlüsselte Nachricht an Amsterdam gerade vernichtet, als deutsche Polizei in die Wohnung stürmte. Der Sabotagechef des GRU befand sich gerade in einem der Schlafzimmer, als er die Wohnungstür zersplittern hörte. Er reagierte sofort und sehr schnell. Er riß das Schlafzimmerfenster auf, schwang sich hinaus, trat auf einen Mauervorsprung, drehte sich um und schoß mit seiner Walther fünfmal auf die Polizisten, die ins Zimmer kamen. Dann tastete er sich eilig das Gesims entlang. Er hatte aber eines übersehen: Der Stein war mit Eis überzogen. Bühler rutschte aus, schlitterte und versuchte sich festzuhalten, als er übers Geländer fiel. Er ließ einen langgezogenen Schrei hören, der erst verstummte, als er fünf Stockwerke tiefer aufs Pflaster fiel.
In dem alten Amsterdamer Haus am Kanal las Rolf Geiger um drei Uhr morgens den entschlüsselten Funkspruch aus Karlsruhe. Er blickte auf und sah Erika Kern an, die ihn mit erwartungsvollem Gesicht anblickte. Er nickte.
»Haben wir grünes Licht?« fragte Erika.
»Das haben wir«, bestätigte Geiger freundlich. Er schnippte sich ein Staubkorn vom Jackenärmel. »Funke die Nachricht nach Willich. Sag ihnen, sie sollen sich beeilen – sehr beeilen…«
Willich ist ein kleines Dorf, das etwa auf halbem Weg zwischen Düsseldorf und der niederländischen Grenze liegt. Zehn Minuten später fuhren vier Männer von einem der neuen Reihenhäuser zur Autobahn nach Düsseldorf, von der sie nach kurzer Zeit auf eine Seitenstraße abfuhren, die sie zu einer Scheune führte. In der Scheune zogen sie sich um und verkleideten sich als Krankenwagenfahrer. Dann bestiegen sie den in der Scheune versteckten Krankenwagen, ein Fahrzeug, das sie vor einem Monat für ein Unternehmen gestohlen hatten, zu dem es nie gekommen war. Mit heulender Sirene verließen sie die Scheune und fuhren mit hoher Geschwindigkeit durch den Schneesturm zu einer Stelle nördlich von Düsseldorf, an der die Bahnlinie Basel-Amsterdam auf einem langen Erddamm verläuft.
Die Männer brauchten fünf Minuten, um die schweren Sprengladungen anzubringen, die sie im Krankenwagen mitgebracht hatten. Sie brachten die Sprengsätze an verschiedenen sorgfältig ausgewählten Stellen an und legten dann die Kabel für den Zeitzünder. Dann verließen sie den Bahndamm, fuhren ein kurzes Stück in Richtung Holland, hielten an und warteten. Die Detonation war gewaltig. Es gab ein grelles Aufblitzen, dann flogen in einer Schneewolke Teile der Gleisanlagen in die Luft. Und mit einem gewaltigen Erdrutsch senkten sich einhundert Meter Damm auf die nahe gelegene Straße.
Darauf fuhr der Krankenwagen wieder an und raste auf die holländische Grenze zu. Die Sirene heulte ununterbrochen. Nach wenigen Minuten kam ihnen ein Streifenwagen entgegen. Der Fahrer des Polizeifahrzeugs dachte kurz über den Krankenwagen nach und bemerkte zu seinem Kollegen: »Irgendein armer Teufel, dem es dreckig geht…«
Um 4 Uhr 20 hatte der Atlantik-Expreß Mainz verlassen und befand sich auf dem Weg nach Köln. Hauptmann Franz Wander weckte jeden im letzten Schlafwagen und bat alle in Marenkows Abteil. Julian Haller, der vor Mangel an Schlaf bleischwere Lider hatte, war noch immer wach,
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