Lawinenexpreß
rollenden Augen, ertappte sich dabei, daß er den Hörer fest umklammert hielt. Die Verbindung war gut, und er spürte die ungeheure Spannung in der Stimme, die aus dem fern im Osten liegenden Wien zu ihm sprach, der Stimme, die er nur sehr selten zu hören bekam. Die Stimme fing an, schnell zu sprechen.
»Ich habe die Nachricht schon vor zwei Stunden gehört, bin aber erst jetzt dazu gekommen, wegzugehen. Das Krokodil kommt. Er ist auf dem Weg nach Zürich…«
Drinnen in der Telefonzelle hörte Leo Skoblin das Quietschen der schlecht geölten Scharniere, als die Zellentür hinter ihm geöffnet wurde. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, den Kopf zu wenden, als ihm das Messer mit der kurzen Schneide unterhalb des linken Schulterblatts bis ans Heft in den Rücken gestoßen wurde. Am anderen Ende der Leitung hörte Traber ein kurzes Aufkeuchen. »Hallo«, sagte er. Als keine Antwort kam, legte er auf. Ihm war leicht übel. Leo Skoblin, der israelische Agent, war ein netter Bursche gewesen. Und Krokodil war der Codename Oberst Igor Scharpinskys.
Es kam noch mehr hinzu – kurz vor diesem Anruf war von Harry Wargrave ein Funkspruch aus Mailand eingegangen, in dem Traber darüber informiert wurde, daß der ›wichtige antikommunistische Agent‹, den der Engländer bei seinem Besuch in Zürich erwähnt hatte, General Sergej Marenkow sei, der Chef des sowjetischen KGB. »Jetzt ist bald die Hölle los«, sagte sich der Schweizer. Er nahm den Hörer ab und bat, sofort mit Oberst Springer verbunden zu werden.
Oberst Springer befand sich in diesem Augenblick im Abwehrhauptquartier in Lugano in der Südschweiz. Man hatte entschieden, daß Springer den Atlantik-Expreß bei seiner Fahrt durch den Abschnitt südlich des Gotthards überwachen sollte; nördlich des Gotthard würde General Traber die Überwachung übernehmen. Traber bekam über das Scrambler-Telefon rasch eine Verbindung.
»Leon«, eröffnete er das Gespräch ohne jede Vorrede, »ich habe soeben von Wargrave erfahren, daß der Passagier, den sie herausbringen, General Marenkow vom KGB ist…«
»Gott im Himmel…«
»Es kann sein; daß auch wir seine Hilfe brauchen. Wappnen Sie sich – es kommt noch mehr. Ich habe außerdem soeben aus einer einwandfreien Quelle erfahren, daß das Krokodil etwa vor zwei Stunden nach Zürich aufgebrochen ist.«
»Noch weitere Details?« fragte Springer schnell.
»Keine. Ich fürchte, die Quelle ist während der Unterhaltung erstochen worden.«
»Dies«, betonte Springer, »könnte eine einzigartige Gelegenheit für uns sein, die wir nie wieder haben werden – unter Umständen taucht der gesamte Sabotageapparat der Kommunisten auf, um einen so eminent wichtigen Mann wie Marenkow zu erledigen. Ich schlage roten Alarm für das ganze Land vor und totale Urlaubssperre…«
»Meine nächste Maßnahme«, versicherte ihm Traber. »So, jetzt muß ich aus der Leitung. Viel Glück dort unten bei Ihnen…«
Traber unterbrach die Verbindung und begann, eine Reihe von Telefongesprächen zu führen. Nach dem, was Skoblin ihm erzählt hatte, mußte Scharpinsky mit dem Flugzeug gekommen sein. Trabers erster Anruf galt den Sicherheitsbeamten des Züricher Flughafens.
»Ich wünsche, daß sofort eine Liste aller Fluggäste zusammengestellt wird, die mit dem Swissair-Flug 433 aus Wien gekommen sind. Ich will wissen, wo sie sich im Augenblick befinden. Überprüfen Sie den Flughafenbus. Spüren Sie sämtliche Taxifahrer auf, die Fluggäste dieses Fluges gefahren haben. Wann ich diese Liste haben will? In einer halben Stunde liegt sie auf meinem Schreibtisch!«
11. Mailand, Moskau, Den Haag
Es war 16 Uhr am Samstag, dem 8. Januar, als Heinz Golchack im Hotel Schweizerhof seine Operationsbasis eingerichtet hatte. In Mailand war es gleichfalls 16 Uhr, als Wargrave nach der Rückkehr in das geheime Quartier Oberst Molinaris hinter dem massiven, verschlossenen Doppeltor am Ende der Sackgasse eine Reihe verschlüsselter Funksprüche an verschiedene europäische Abwehrchefs abgehen ließ. Der zuvor instruierte Funker Peter Necker brauchte den Namen ›Sarubin‹ nur durch ›Marenkow‹ zu ersetzen.
Diese Funksprüche gingen an General Traber in Zürich, an Hauptmann Franz Wander vom BND, an General Max Scholten, den Chef der niederländischen Abwehr in Den Haag. Während Wargrave diese Warnungen über Funk durchgeben ließ, steigerte sich das Tempo des gesamten Unternehmens, und in dem Gebäude, das Molinari den Sparta-Leuten zur
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