Lawinenexpreß
Wahrheit zu sagen. Sie haben noch etwa fünfzehn Minuten – wir wollen den Mailänder Hauptbahnhof kurz vor Abfahrt des Zuges erreichen.« Er verließ den Raum, und Elsa sprach ernst auf den Russen ein.
»Ich bin zu Ihrem Schutz da. Von jetzt an werden Sie genau das tun, was ich Ihnen sage.« Sie zeigte auf die beiden Falttaschen, die er in der linken Hand hielt. »Die Fahrkarten gelten bis Amsterdam, falls wir bis nach Schiphol fahren müssen, wenn der Züricher Flughafen geschlossen wird, was ich aber nicht hoffe. Die Bettkarten sind für Wagen vier reserviert, den hintersten Schlafwagen – das ist der erste, den wir hinter der Sperre erreichen. Wir steigen aber erst in den Schlafwagen davor ein und gehen dann zurück…«
»Wargrave hat dies alles sehr gut organisiert«, bemerkte Marenkow.
»Noch eins«, fuhr Elsa fort. »Einen verkleideten Mann – oder eine verkleidete Frau – erkennt man am leichtesten am Gang. Sie haben einen schweren, stampfenden Schritt. Das müssen Sie ändern. So, jetzt wollen wir mal üben – gehen Sie hier im Zimmer umher, und ich werde meine Kritik äußern. Und vergessen Sie nicht, der gefährlichste Ort könnte der Mailänder Bahnhof sein, bevor wir den Zug besteigen…«
Um 16 Uhr 15 wanderte eine schnauzbärtige Gestalt mit Brille und Regenmantel in der riesigen Halle des Milano Centrale umher, einem Kopfbahnhof, der es an Größe mit dem Frankfurter Hauptbahnhof aufnehmen kann. Aus Marmor erbaut, mit riesigen Säulen und dem hohen gewölbten Dach sieht er eher wie ein majestätisches Mausoleum als wie ein Bahnhof aus. Matt Leroy machte sich Sorgen, als er mit einer zusammengefalteten Zeitung in der Hand seinen Rundgang fortsetzte.
Er war inzwischen mit vielen europäischen Bahnhöfen vertraut, und Milano Centrale gefiel ihm überhaupt nicht. Dieser Bahnhof war zu groß, es gab zu viele Winkel, in denen sich Scharfschützen verstecken konnten. Allzu besorgniserregend ist die Lage aber nicht, denn für die Sicherheit zeichnete ja Molinari verantwortlich, sagte er sich. Unter die Reisenden, die bereits den Atlantik-Expreß bestiegen – viele von ihnen waren italienische Gastarbeiter, die von ihrem Weihnachtsurlaub in Italien zu ihren Arbeitsplätzen in der Schweiz und in der Bundesrepublik zurückkehrten – mischte sich jetzt ein kleines Heer von SIFAR-Leuten in Zivil.
Molinari hatte noch mehr getan: Leroy entdeckte eine große Zahl uniformierter Carabinieri, die die Anwesenheit der Staatsmacht offen zur Schau trugen. Und hoch oben hinter irgendwelchen Bürofenstern, das wußte Leroy, waren drei von Molinaris gutausgebildeten Scharfschützen postiert; sie waren mit Gewehren mit Zielfernrohren ausgerüstet. Die zusammengefaltete Zeitung, die der Amerikaner in der Hand hielt, trug er nicht zufällig mit sich herum; jeder SIFAR-Mann im Bahnhof wußte, daß er mit ihr wie beiläufig in irgendeine Richtung würde zeigen können, um auf etwas hinzuweisen, was seinen Verdacht erregt hatte.
Ein Mann, den Matt Leroy nicht bemerkte, war ein kleinwüchsiger Italiener, der eine Menge Gewicht mit sich herumschleppte und einen breiten, aggressiven Mund hatte. Ugo Sala, der Mann, der Wargraves Lastwagen vom Flughafen gefolgt war und ihn dann verloren hatte, als die Straßenbahnen ihm den Weg versperrten, stand vor dem Restaurant und trank eine Tasse Kaffee; in der Nähe war die Barriere, hinter der die sechzehn Waggons des Atlantik-Expreß sich bis weit aus der Halle erstreckten.
Anders als Toni Morosi, der Fluglotse, der auf das Ablenkungsmanöver Oberst Molinaris hereingefallen und dem Fahrzeugkonvoi in Richtung Genua gefolgt war, hatte Ugo Sala, ein erfahrener KGB-Agent, sich zu einer Spezialausbildung in der Sowjetunion aufgehalten. Und während dieser Zeit in Moskau hatte er General Marenkow mehrmals aus der Nähe gesehen. Er warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Es war 16 Uhr 35. Bis zur Abfahrt des Atlantik-Expreß blieb noch eine halbe Stunde.
Um 18 Uhr in Moskau – in Zürich und Mailand war es erst 16 Uhr – sah sich die dreiköpfige Untersuchungskommission, die zur Aufgabe hatte, den geheimen Informanten ausfindig zu machen, vor einer anderen und weit erschreckenderen Aufgabe. Auf Drängen Marschall Pratschkos war der Funkspruch an Oberst Scharpinsky hinausgegangen, er könne den gesamten sowjetischen Sabotageapparat in Westeuropa einsetzen, um Marenkow zur Strecke zu bringen. Anatolij Sarubin hatte Marenkow als drittes Kommissionsmitglied ersetzt.
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