Lawinenexpreß
Verfügung gestellt hatte, herrschte eine Atmosphäre äußerster Anspannung. Um 17 Uhr 05 würde der Atlantik-Expreß vom Mailänder Hauptbahnhof abfahren.
In ihrem Schlafzimmer war Elsa Lang dabei, General Marenkows äußere Erscheinung mit Hilfe der Maskenbildnerausrüstung, die sie immer bei sich hatte, zu verändern. Dabei kam ihr die Erfahrung zugute, die sie während ihrer einjährigen Tätigkeit für die Londoner Filmgesellschaft als Maskenbildnerin erworben hatte. Marenkow, der sich einen weißen Pullover um die Schultern drapiert hatte, saß geduldig auf einem Stuhl, während sie seine – buschigen Augenbrauen stutzte und seine Frisur änderte. Auch diesmal wieder schien der Russe der gelassenste Mensch im Haus zu sein.
»Es wird nicht ganz leicht sein, mich in einen Filmstar zu verwandeln«, scherzte er, als er seine neue Erscheinung im Wandspiegel betrachtete.
»Nun ja, ein Gregory Peck wird wohl nicht aus Ihnen werden«, erwiderte sie, wobei ihre Hände emsig weiterarbeiteten, »aber wenn Sie ein bißchen größer wären, könnten Sie als Lee Marvin durchgehen…«
»Das ist ein Bösewicht – genau wie ich…«
Elsa grinste, als der Russe sich vor Lachen schüttelte. »Halten Sie still, Sie Hegel, ich habe noch zu tun…« Seitdem der Russe Elsas Todesangst vorm Fliegen erahnt und ihr kurz vor der abenteuerlichen Landung auf dem Mailänder Flughafen seine Wodkaflasche gereicht hatte, hatte sich zwischen dem Russen und dem englischen Mädchen ein merkwürdiges Verhältnis herausgebildet. Eine Freundschaft hätte man es kaum nennen können, aber beide fühlten sich zueinander hingezogen. Zwischen beiden herrschte das Gemeinsamkeitsgefühl von Menschen, die eine tiefe Einsamkeit verbergen. Elsa hatte kurz vor dem Eintritt bei Sparta ihren künftigen Ehemann verloren; Marenkow hatte seine Frau verloren. Aber das wußte keiner vom anderen.
»So, und jetzt die Kleidung…«, sagte Elsa munter.
Molinari hatte sich in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, selbst übertroffen und eine breite Auswahl von Wintersachen in verschiedenen Größen und Schnitten ins Gebäude bringen lassen, einschließlich dreier Vicuna-Mäntel. Marenkow probierte rasch mehrere Anzüge an, bis sich Elsa mit einem dunkelblauen Tagesanzug zufrieden zeigte. Und einer der Vicuna-Mäntel paßte ihm wie angegossen. Er stellte sich vor dem Spiegel in Pose. »Ich glaube, ich werde in Amerika viel Spaß haben«, bemerkte er gut gelaunt.
»Wir werden als Mann und Frau reisen«, fuhr sie lebhaft fort. »Sie sind George Wells, ein Ölmanager, der für die Shell International arbeitet – es gibt einen solchen Mann, aber der hält sich gegenwärtig in Venezuela auf. Die Tatsache, daß der Atlantik-Expreß nach Holland fährt, wo die Shell ihren Hauptsitz hat, macht Ihre Rolle noch glaubwürdiger. Wir reisen natürlich erster Klasse und werden ein Schlafwagenabteil haben…«
»Zehn Jahre früher, und ich hätte meine gute Kinderstube vergessen…«
Sie zeigte durch ein Lächeln, daß sie das Kompliment zu schätzen wußte, wurde dann aber wieder geschäftlich. »Ihre Krawatte sitzt nicht richtig…« Kundige Finger nestelten an der Krawatte. »Wir sind sehr gut bestückt…« Sie mußte erklären, daß sie damit ›wohlhabend‹ meinte. »… daher die teure Kleidung. Ihr Paß wird noch vor der Abreise fertig sein…«
Sofort nach der Ankunft war Marenkow fotografiert worden, und einer von Molinaris technischen Experten war jetzt im Untergeschoß dabei, letzte Hand an den Paß anzulegen, der vorab so weit wie möglich vorbereitet worden war; nur das Paßfoto sowie die Angaben über Körpergröße und Farbe der Augen hatten noch gefehlt. »Die Fahrkarten haben natürlich Sie bei sich«, sagte sie und reichte ihm zwei Falttaschen.
»Wir brauchen Fahrkarten?«
»Um im Milano Centrale durch die Sperre zu kommen – es muß alles normal aussehen, für den Fall, daß jemand uns beobachtet…«
Sie fuhr herum, als sie hörte, daß die Tür aufging, ließ die Hand in eine Schublade gleiten und ergriff ihre Smith & Wesson. Marenkow bewegte sich mit außergewöhnlicher Behendigkeit, packte eine volle Weinflasche am Hals und hob sie hoch, um sie jederzeit wurfbereit zu haben, und stellte sich Elsa gegenüber. In der Türöffnung musterte Harry Wargrave die beiden, die Hände auf die Hüften gestützt.
»Nicht übel«, bemerkte der Engländer und studierte Marenkows verändertes Erscheinungsbild. »Sehr bemerkenswert, um die
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