Lawinenexpreß
einem Anschluß in Andermatt.
12. Andermatt, Schweiz
Um 16 Uhr 40 legte Robert Frey in der Bar des Hotels Storchen in Andermatt den Telefonhörer auf und blickte hoch, als eine Frau die Treppe herunterkam und in die Halle nebenan ging. »Anna, ich habe hier eine große Bloody Mary für dich«, rief er aus.
»Trink sie selbst – vielleicht bleibt sie dir im Hals stecken…«
Andermatt ist ein Wintersportort, eine kleine Stadt mit weißgetünchten Häusern mit steilen Dächern und einer einzigen Hauptstraße. Der Ort liegt am Ausgang eines langgestreckten Tals, das nach Gletsch und zum Rhone-Gletscher führt. Seine Hotels und Pensionen waren voll von Gästen, einer buntgemischten Schar aus vielen Nationen. Unter denen, die vor kurzem von den Skihängen zurückgekehrt waren, befand sich auch Anna Markos, eine auffallende Frau von achtunddreißig mit einer vollbusigen Figur, die in diesem Augenblick die ungeteilte Aufmerksamkeit Robert Freys in Anspruch nahm. Die Griechin stand am Eingang zur Bar, stemmte die Hände auf die Hüften und sah Frey aufreizend an.
»Na, komm schon«, sagte er auf französisch, »hör auf mit diesen Albernheiten.«
Er nahm seinen eigenen Drink und die Bloody Mary und ging zu einer Couch hinüber, die vor einem offenen Feuer stand, wo knisternd und krachend ein halber Baumstamm brannte. Frey setzte sich, machte es sich bequem und wollte Anna mit einem Finger herbeiwinken. Anna Markos zog ihre wohlgeformten Schultern hoch, ging in die Bar, ignorierte den leeren Platz neben Frey und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber.
»Warum müssen wir immer kämpfen?« verlangte Frey zu wissen.
»Weil du glaubst, du brauchst nur den Finger krumm zu machen, damit jede Frau sich nackt auszieht und sich vor dir hinlegt.«
»Das Vergnügen haben schon viele gehabt…«
Jetzt füllte nach und nach die Menge der Apres-Ski- Hungrigen das Hotel und die Bar; man sah den Gesichtern die Anstrengungen auf den Hängen und die Vorfreude auf einen wilden Abend an. Es waren Franzosen da, Deutsche, Skandinavier, einige wenige Briten (der Schweizer Franken ist für einen britischen Normalbürger zu teuer geworden).
Anna Markos zog ihre Skijacke aus, ignorierte Frey und drehte sich nach den Menschen um. Sie nahm ihr Skimütze ab, schüttelte ihr langes schwarzes Haar aus und präsentierte dem riesigen Schweizer einen Augenblick lang ihr Profil, als sie in einem Wandspiegel kurz ihr Aussehen prüfte. Es war ein großartiges Profil mit einer hinreißend gebogenen Nase, hohen Wangenknochen, einem energischen, wohlgeformten Kinn. Und jetzt konnte Frey auch deutlicher sehen, wie sich ihre Brust gegen die enge azurblaue Bluse preßte; er sah die Umrisse ihrer langen, kräftigen Beine, die sie langsam und mit Vorbedacht übereinanderschlug. Sie langte nach ihrem Drink und wich dabei geschickt dem Zugriff seiner Hand aus. Mit einem langen Schluck trank sie das halbe Glas leer. Ihre großen schwarzen Augen warfen ihm über den Rand des Glases hinweg einen zornigen Blick zu.
»Und dieser Drink verschafft dir nicht einmal einen Einstieg bei mir.«
»Und doch kennen wir uns seit über…«
»Man hat uns nie vorgestellt – du bist in mein Privatleben eingedrungen«, gab sie ironisch zurück.
Was die Stärke der Persönlichkeit und der Erscheinung betraf, war Robert Frey, der berühmte Schweizer Bergsteiger, Anna Markos ebenbürtig. Frey war die dominierende Figur in Andermatt, nahm an allem Anteil, was in der kleinen Stadt geschah, und die Wintersportsaison war der Höhepunkt seines Arbeitsjahres. Er war fast einen Meter neunzig groß, ein großer, bärenstarker Mann von fünfundvierzig mit einer großen Hakennase und einer wilden Mähne dunklen Haars. Frey strahlte körperliche Vitalität und Lebensfreude aus. Er war so etwas wie ein Idol des Ortes.
Als Bergsteiger hatte Frey sämtliche wichtigen Gipfel der Schweiz erklommen einschließlich aller Wände des Mordbergs Eiger. Er war ein hervorragender Skiläufer, ein erfahrener Pilot, außerdem noch Geologe und Lawinenexperte; er war Mitglied der Schnee- und Lawinenforschungsanstalt, die ihren Sitz gut zweitausend Meter oberhalb von Davos hatte. Um diese Jahreszeit war er ständig unterwegs: entweder mit dem Hubschrauber, um sich über den Schneefall und die Schneehöhen zu informieren und nach möglichen Lawinenzonen zu suchen; er betrieb daneben eine Skischule für ausländische Gäste und hatte nach Einbruch der Dunkelheit auch noch Zeit für das muntere
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