Lawinenexpreß
Guisan…«
Haller machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück in sein Abteil, in dem Marenkow noch immer mit dem Rücken zum Fenster stand. »Runter auf den Fußboden«, rief Haller aus, packte den Russen und zwang ihn zu Boden. Elsa hatte sich schon hingeworfen, als Marenkow sich neben ihr ausstreckte. »Unter anderen Umständen würde ich diese Lage sehr zu schätzen wissen«, sagte er ihr. Als ihr aufging, daß er sie nur beruhigen wollte, nahm sie seine Hand und drückte sie. »Sie werden schon damit fertig werden.«
»Darauf können wir uns verlassen«, erwiderte Marenkow, der die extreme Spannung verbarg, die er empfand.
Haller hatte das Abteil verlassen, und Elsa langte hinauf, um die Tür abzuschließen. Der Expreß stand jetzt auf freier Strecke, und der Amerikaner stand an der Stelle, an der Phillip John Wache hielt. Er packte den Engländer am Arm. »Kommen Sie mit«, befahl er und betrat ein leeres Abteil. Er machte das Licht aus, zog den Vorhang ein wenig hoch, dann ganz. Er konnte nichts sehen, was seine Aufmerksamkeit erregte. Es schneite nicht, der Himmel war klar, und die dicht neben dem Schienenstrang verlaufende leere Landstraße wurde vom Vollmond beschienen. Haller zog das Fenster herunter, worauf eine Welle eisiger Luft in Abteil strömte. Er blickte nach Norden, sah das rote Signal, sah nach Süden und kniete nieder.
»Da kommen sie…« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als sie das trommelnde Rattern eines Maschinengewehrs hörten. In der Stille der Nacht war das Geräusch erschreckend laut. »Ein Armeejeep«, sagte Haller schnell. »Zielen Sie auf den Fahrer. Treffen Sie den Fahrer…«
John quetschte sich vor Haller, hockte sich in der Ecke ruhig in Position und legte mit seiner Luger an. Er zielte auf einen Punkt auf der Landstraße, den der Jeep noch nicht erreicht hatte. Das Feuer des Maschinengewehrs war jetzt ein donnerndes Krachen. Die Salven durchschlugen die Fenster des letzten Schlafwagens, als der Jeep auf der Landstraße vorüberraste. Der Mann am MG war ein Experte, der den Lauf beim Feuern ein wenig auf und ab bewegte, um eine möglichst große Fläche zu bestreichen. John wartete reglos, die Luger im Anschlag. Ein Kugelhagel peitschte durch das Abteil, und dann kam der Jeep in Sicht. John feuerte dreimal in schneller Folge. Das Rattern des Maschinengewehrfeuers hörte auf, als der Jeep mit dem zweiten Schlafwagen gleichauf war. Dann verschwand er in die Nacht und fuhr in nördlicher Richtung auf der Landstraße davon.
»Hab’ sie verfehlt. Schweinerei«, sagte John bitter.
»Bewegliches Ziel«, bemerkte Haller voller Mitgefühl, als er vom Fußboden aufstand. Er rannte auf dem Gang zurück und benutzte das verabredete Klopfzeichen. Die Tür wurde von Elsa geöffnet. In der Türspalte zeigte sich ihr Revolver. Ihre Hand zitterte nicht, wie Haller bemerkte. Marenkow kam gerade wieder auf die Beine. Hinter ihm waren der Fenstervorhang zerfetzt und die Scheibe zertrümmert. Wäre er eine Minute länger stehengeblieben, hätten die Kugeln ausgereicht, ihn ein dutzendmal zu töten. Der Russe trat auf Glassplitter, als er zur Tür ging.
»Meinen Glückwunsch zu Ihrem Sicherheitssystem, Mr. Haller. Ist von Ihren Männern jemand getroffen worden? Nein? Gott sei Dank. Ja, Ihre Abwehr ist wirklich hervorragend. Die Burschen werden natürlich einen neuen Versuch unternehmen, aber dieser kleine Zwischenfall beruhigt mich erheblich.«
Haller gab sich Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Der Russe schien die gelassenste Person im gesamten Schlafwagen zu sein. Am anderen Ende des Gangs sah Haller, wie Matt Leroy einen Daumen hochreckte, womit er andeutete, daß der zweite Schlafwagen ungeschoren geblieben war. »Wir ziehen in den nächsten Schlafwagen um«, sagte Haller zu Marenkow. »Elsa, begleite ihn hinüber…« Er starrte über ihre Schultern hinweg durch die zertrümmerte Fensterscheibe in die Nacht hinaus.
»Und das nenne ich eine verdammt schnelle Reaktion…«
Entlang der Landstraße war ein Konvoi Schweizer Militärfahrzeuge aufgetaucht und hielt jetzt an. Mit automatischen Waffen bewaffnete Soldaten sprangen von den Mannschaftswagen und schwärmten aus, um den haltenden Expreß zu umstellen.
Von seinem Hauptquartier in Lugano aus hatte Springer den Stellwerksleiter Alois Reiter und zwei andere Eisenbahner mit einem schnellen Wagen zum Bahnwärterhäuschen von Vira geschickt. Inzwischen bewegten sich überall im Sektor 431 Militär- und
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