Lawinenexpreß
Marenkow mit dem Rücken zum Fenster stand und sich die steif gewordenen Beine vertrat. Der Vorhang war heruntergelassen, der massive Rumpf des Russen ergab eine perfekte Silhouette.
»Was war, als Sie durch den Zug gegangen sind?« fragte er.
»Ich habe gesehen, wie diese drei Revolvermänner festgenommen wurden…«
»Ich glaube, Sie haben etwas anderes gesehen – oder erlebt. Oder irre ich mich?« Marenkow hielt warnend die Hand hoch. »Überlegen Sie, bevor Sie sprechen. Ich bin ein Mann, der vor der Intuition einer klugen Frau Achtung hat.« Als er dies sagte, dachte Marenkow an seine arme, tote Frau Irina und an die Zeiten, in denen sie die kommenden Machtverschiebungen in der Moskauer Führungsspitze vorausgeahnt und ihn gewarnt hatte.
»Vielen Dank«, erwiderte Elsa ein wenig unhöflich. Marenkow lernte sie allmählich etwas zu gut kennen. Sie riskierte einen Seitenblick zu Haller, der auf Marenkow als leicht brüskierend wirken mußte. »Ich meine einfach, daß wir es uns nicht eine Sekunde lang leisten können, in unserer Wachsamkeit nachzulassen.«
»Wie zum Teufel kommst du zu der Annahme, ich sei nicht wachsam«, brauste der Amerikaner auf. »Bis Schiphol steht uns ein tödliches Spießrutenlaufen bevor. Ich begreife nicht, was gerade in diesem Augenblick in dich gefahren ist.«
»Furcht«, sagte Marenkow leise. Er stand noch immer mit dem Rücken zum Fenster und sah Elsa neugierig an. »Furcht ist etwas, was ich immer riechen kann.« Der Russe zuckte die Achseln und gab es auf, das englische Mädchen weiter auszuforschen. »Der Expreß wird langsamer«, bemerkte er.
Haller sah auf seine Armbanduhr, obwohl er wußte, daß sie noch nicht kurz vor Bellinzona sein konnten. »Da muß irgendein Signal auf Rot stehen«, meinte er.
Im Stellwerk von Lugano starrte dessen Leiter, Alois Reiter, ein vierzigjähriger Mann mit ruhelosen Augen, auf seine Instrumententafel. Er starrte auf das Stoppsignal von Vira, ein Stoppsignal, für das es keinerlei Grund gab. Ein anderer Mann hätte vielleicht gezögert und über mögliche Ursachen nachgedacht, hätte unter Umständen das Bahnwärterhäuschen von Vira angerufen. Statt dessen befolgte Reiter auf der Stelle seine Anweisungen. Er wählte eine Nummer, die ihn sofort mit dem Hauptquartier Oberst Springers verband. Horner nahm den Anruf entgegen, hörte kurz zu, legte die Hand auf die Sprechmuschel und berichtete Springer von der Neuigkeit.
»Da steht irgendein Signal unerklärlicherweise auf Rot – in der Nähe von Vira. Der Expreß wird in weniger als zwei Minuten dort angehalten werden…«
Springer reagierte wie elektrisiert. »Warnen Sie Haller – Großalarm.« Er warf einen Blick auf eine Wandkarte und wandte sich dann einem anderen Beamten zu. »Großalarm für Sektor 431. Alle Fahrzeuge sind anzuhalten – zivile, Polizeifahrzeuge, militärische, einfach alle. Errichten Sie um den gesamten Sektor herum Straßensperren. Riegeln Sie ihn ab. Es darf nichts und niemand herein oder heraus.«
»Auch Militärfahrzeuge?« wollte der Beamte wissen.
»Ich sagte, alle Fahrzeuge«, brauste Springer auf. »Alles, was sich bewegt. Und vergessen Sie nicht den Flugplatz von Locarno…«
Der Beamte hatte bereits zum Telefon gegriffen und erteilte eine Flut von Anweisungen. Überall im Sektor 431 begannen Einheiten der Schweizer Armee und der Abwehr, in die Nacht hinauszufahren; Hubschrauber stiegen auf, leichte Armeeflugzeuge wurden aus den Hangars gerollt. Horner bediente jetzt das Sendegerät selbst und funkte die Anweisungen zum Großalarm hinaus. Guisan… Guisan… Guisan … Das war der Name des Schweizer Oberbefehlshabers im Zweiten Weltkrieg, der in einem kritischen Moment die Totalmobilmachung der Schweizer Streitkräfte angeordnet hatte, und zwar gegen den vehementen Widerstand seiner Regierung. In General Traber und Oberst Springer lebte der Geist Guisans fort.
Der Atlantik-Expreß rollte kaum noch, als heftig an die Tür von Marenkows Abteil geklopft wurde. Haller schloß die Tür auf und öffnete sie ein wenig. Draußen auf dem Gang sah sich Matt Leroy der Mündung von Hallers 45er Colt gegenüber. »Über Funk ist soeben ein Großalarm angeordnet worden«, sagte Leroy aufgeregt.
»Gehen Sie zurück ans Ende des Wagens…« Haller trat auf den Gang hinaus und rannte zum Funkabteil im nächsten Schlafwagen. Dort sah er seinen Funker Peter Necker – gegen alle Anweisungen – auf dem Gang stehen. »Guisan«, rief Necker. »Guisan –
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