Lawinenexpreß
Asse im Ärmel.
Der lange Funkspruch nach Amsterdam beunruhigte ihn ein wenig – er war für eine sichere Übermittlung vielleicht etwas zu lang. Er war aber unerläßlich. Er enthielt sehr detaillierte Anweisungen für Rolf Geiger, den Chef der Geiger-Bande, die sich jetzt in der Nähe der holländischen Grenze aufhielt. Und da war natürlich auch noch der zweite Mann im Atlantik-Expreß. Nicos Leonides war immer noch da…
Nicos Leonides. In bestimmten Kreisen auf dem Balkan brachte allein schon die Nennung des Namens so manchen Mann um den Schlaf; prominente Antikommunisten meinten nachts Schritte auf der Treppe zu hören. Sie fürchteten, sie könnten ›auf die Liste gesetzt‹ worden sein, wie die unschuldige Formulierung lautete. Die Bezeichnung ›Berufskiller‹ wäre eine unzutreffende Beschreibung dessen, was Leonides war. Bei diesem Wort stellt man sich einen gemieteten Mörder vor, der für viel Geld ›Kontrakte‹ erfüllt und bestimmte Menschen auf Befehl umbringt. Leonides, ein überzeugter Kommunist aus Saloniki, liquidierte nur wohlbekannte Antikommunisten. Sein Auftraggeber, Oberst Igor Scharpinsky, hatte ihn seltsamerweise noch nie zu Gesicht bekommen. Leonides hatte Scharpinsky zum erstenmal seine Dienste angeboten, als dieser unter einem falschen Namen als angeblicher Militärattache an der sowjetischen Botschaft in Athen diente. Leonides meldete sich ausschließlich von Telefonzellen aus. Scharpinsky war zunächst skeptisch gewesen; er hatte eine Falle vermutet und mißtraute zudem den Beteuerungen des Griechen, er handle nur aus idealistischen Motiven. So hatte Scharpinsky zunächst das Angebot Leonides’ ignoriert, als Scharfrichter zu arbeiten. Mehrere Telefongespräche später hatte Scharpinsky dann aber dem Vorschlag Leonides’ zugestimmt, daß es ›angezeigt‹ sei, den Herausgeber einer bestimmten Athener Tageszeitung, einen älteren Mann, zu liquidieren.
Drei Tage später las der skeptische Scharpinsky zu seinem großen Erstaunen, man habe den ausgebrannten Wagen des griechischen Zeitungsmannes am Fuß eines steilen Felsens im Meer gefunden; die Leiche sei von einem Sturm hinausgetrieben worden, hieß es. Zwei Jahre und drei Monate später war Scharpinsky überzeugt, für den Notfall eine ideale menschliche Waffe zu besitzen. Da die Opfer stets von Leonides ausgesucht worden waren, sagte sich Scharpinsky schlau, daß der Grieche seine kommunistische Überzeugung mit privater Rache zu vereinen wußte. Typisch für die Bauernmentalität dieser Leute vom Balkan. Der Russe hatte den Griechen auf Umwegen aber immer ansprechen können. Und zum Glück hatte Leonides sich gerade zur rechten Zeit in Mailand aufgehalten. Er befand sich jetzt als Reisender im Atlantik-Expreß.
Jorge Santos hatte es sich an seinem Fensterplatz bequem gemacht und streckte seine langen Beine aus, die er an den Knöcheln übereinandergeschlagen hatte. Er zündete wieder seine Pfeife an und blickte kurz auf, als draußen auf dem Gang Harry Wargrave vorübereilte, um zu Phillip John zu gehen. Wie Wargrave hatte auch der Spanier nicht im Speisewagen gegessen; er hatte sich eine Flasche Wein und einige Lebensmittel mitgebracht, die er soeben verzehrt hatte.
Er paffte seine Pfeife, sah auf die Uhr und wechselte dann seine Stellung, um die Steifheit aus seinen Gliedern herauszubekommen. Er fühlte, daß im Zug zunehmendes Unbehagen spürbar wurde, als der Expreß jetzt die langgezogene Steigung in Richtung Gotthardtunnel nahm. Rein äußerlich war Jorge Santos einer der gelassensten Reisenden im Atlantik-Expreß.
»Ich bin noch immer der Meinung, du hättest es mir sagen sollen, Harry…«
Elsa benutzte einen Gazestreifen aus ihrem Erste-Hilfe-Verbandskasten, um das Blut von Wargraves Nase abzuwischen, als Julian Haller mit grimmigem Gesicht zum zweitenmal seinen Tadel aussprach. Sie saßen zusammen mit Marenkow und Oberst Springer im Schlafwagenabteil. Wargrave zeigte sich aber uneinsichtig, sogar in recht aggressiver Weise.
»Es hat funktioniert«, bellte der Engländer knapp. »Ich habe den GRU-Mann aus dem Zug gestoßen, den sie hier eingeschmuggelt hatten. Und denken Sie auch daran«, fuhr er mit Nachdruck fort, »daß Sie mir vor der Abreise aus Amerika zugesagt haben, in Europa hätte ich die Leitung des Unternehmens…«
»Sie hätten mir vertrauen können…«, fing Haller wieder an.
»Das hätte zuviel Schauspielerei erfordert«, beharrte Wargrave. »Sie hatten auch so schon genug um
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