Lazyboy
der Praxis von Dr. Brose an und lasse mich an die Psychologin überweisen.
8
Die Frau, die mir die Tür öffnet, hat kinnlange, dunkelrote Locken und kreisrunde, große, ultramarinblaue, überaus traurige Augen. Sie hat eine markante Nase und einen kleinen Mund mit vollen, sinnlich geschwungenen Lippen. Sie trägt ein gepunktetes Sommerkleid mit Trägern. Man kann durch das Kleid erkennen, dass sie keinen BH trägt und flache, etwas hängende Brüste hat. Ich räuspere mich. Die Praxis befindet sich im vierten Stock eines Altbaus in einem der etwas besseren Viertel der Stadt. Erst denke ich, dass es eine Art Vorzimmerdame ist, es gab keinen Summer oder so, sie hat mir persönlich die Tür geöffnet, dann aber streckt sie mir ihre langfingrige Hand entgegen und stellt sich als Ellen Merbold, die Psychotherapeutin, vor. Sie hat eine sehr tiefe, rauchige Stimme, als wäre sie der Marlboro-Cowboy in grazil.
»Lazyboy«, sage ich und komme mir unsagbar albern vor, aber da muss ich jetzt durch. Kurz stelle ich mir vor, wie ihre Augen einen noch traurigeren Ausdruck annehmen, wenn ich den Schritt über ihre Schwelle mache und plötzlich verschwinde. Ich mache den entscheidenden Schritt und stehe ihr dicht gegenüber, zu dicht, in einem langen Flur, von dem aus sich etliche Türen in unzählige lichtdurchflutete Räume zu öffnen scheinen, ein sonderbarer Eindruck.
Sie führt mich in ein großes Zimmer mit Korktapete an den Wänden und hellblauen Vorhängen vor den Fenstern. Sie setzt sich hinter einen gläsernen Schreibtisch, und ich nehme davor in einem Stuhl von Le Corbusier Platz.
Hinter ihr an der Wand hängt dieses Bild, auf dem ein Löwe nachts in der Wüste an einem schlafenden Tuareg oder etwas Ähnlichem herumriecht, neben dem Turbanträger liegt ein Musikinstrument im Staub.
»So«, sagt sie, »und Sie heißen also tatsächlich Lazyboy, ja? Habe ich da etwas nicht mitbekommen, sind Sie der neue weiße Rapstar oder so was?«
»So ähnlich«, sage ich und merke, dass ich rot werde, was mir nicht oft passiert in letzter Zeit.
»Oder entstammen Sie einer Möbeldynastie, und Ihr Vater hat seinen berühmtesten Sessel nach seinem Sohn benannt aus lauter Liebe?«
Ich stelle fest, dass ich mir Psychotherapeuten anders vorgestellt habe. Feinfühliger, zurückhaltender. Es ist mein erster Besuch, und sie macht gleich Witze über ihren Patienten.
»Genau«, sage ich. »So ist es. Genau wie bei Herrn Benz und seiner reizenden Tochter Mercedes. Aber es fällt mir sehr schwer, über meinen Vater zu sprechen, weil er sehr qualvoll gestorben ist vor gar nicht langer Zeit, ich habe ihn zu Tode gepflegt, er hatte diese schlimme Darmerkrankung, bei der man innerlich an den eigenen Fäkalien zugrunde geht.«
»Oh, das tut mir leid«, sagt sie. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nicht ... Ich hatte keine Ahnung, dass ...«
»Ist schon gut, ich mache nur Witze.«
Ich würde sagen, das nennt man einen Traumstart in die vertrauensvolle Therapeuten-Klienten-Beziehung, ich bin gespannt, was jetzt noch kommen kann.
Aber dann lächeln wir beide.
»Sie sind aber noch sehr jung für eine Therapeutin«, sage ich.
»Sind Sie enttäuscht?«
»Im Gegenteil.«
Wir schweigen. Sie sieht auf ihre Schreibtischoberfläche, wo ein Blatt Papier auf dem Klemmbrett liegt, aber sie hat, so weit ich sehen kann, noch nichts darauf geschrieben.
»Und Sie?«, sage ich.
»Bitte?«
»Kann es sein, dass ich Ihren Namen auch schon mal irgendwo gehört habe?«
»Ja, er ist mein Vater.«
»Bitte?«
»Ulf Merbold, ja, er ist mein Vater.«
»Der berühmte Astronaut aus den 80er-Jahren? Der erste Westdeutsche im All?«
»Genau.«
»Wow.« Ich pfeife anerkennend durch die Schneidezähne. »Dann haben Sie sicherlich auch nicht viel von Ihrem Vater gehabt. Der Vater auf dem Mond, eine Kindheit ohne Vater, sicherlich nicht einfach.«
»Sie sind zu mir gekommen, um mit mir über meine Kindheitstraumata, meinen Weltraumpapa zu sprechen?«
»Äh, nein.«
»Schön, dann lassen Sie uns von Ihnen sprechen.«
»Okay«, sage ich.
Wir sitzen da und blicken uns an, aber es passiert nichts.
Ich sage: »Wenn ich Ihnen jetzt erzähle, worum es geht, ich meine, so richtig, unverblümt und so, und Sie den Eindruck erhalten sollten, ich hätte sie nicht alle, dann wäre ich ja in gewisser Weise damit bei Ihnen an der richtigen Adresse, stimmt’s? Ich muss mich dann nicht schämen oder so.«
»Nein, Sie sagen, was Sie zu sagen haben, und ich sage
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