Lazyboy
Türen. Das eine Mal finde ich mich in einem dunklen Flur einem getigerten Kater gegenüber, das zweite Mal blicke ich in eine leere Schneiderwerkstatt, Stoffbahnen und mechanische Nähmaschinen. Ich versuche noch ein paar Türklinken an den schmucken, kleinen Backsteinhäusern, Türen aus bunt bemaltem Holz mit kunstvollen Verzierungen, und keine führt zurück ins Vertraute. Keine stellt eine Passage dar. Dann fallen mir einzelne Gebäude aus Beton auf, die zwischen den Backstein gewürfelt sind, fremde, kalte Findlinge, ein seltsamer Effekt.
Ich gelange auf eine Art Dorfplatz, in dessen Mitte ein vereister Brunnen steht. Ein mächtiger Bronzeadler kämpft darauf mit einer riesigen, fleischigen Schlange, die ihrerseits einen silbernen Fisch im Maul hält. Der Platz ist gesäumt von Backsteinfassaden, in den unteren Stockwerken Läden, Handwerksbetriebe, Schuhmacher Brinn steht da zum Beispiel, man scheint also Deutsch zu sprechen, ein Bäcker nebenan.
Ich bleibe ratlos stehen, schlage die Hände in den Wollhandschuhen ineinander, schaue meinen Atemwolken hinterher, wie sie in den strahlend blauen Winterhimmel aufsteigen. Interessant, diese Atemwölkchen, man beschäftigt sich gemeinhin viel zu selten mit ihnen. Gerade könnte ich es ewig tun. Denn auf dem Platz wimmelt es von Menschen, allerdings alle erstarrt, und alle starren mich an. Wenn ich nicht eh schon dächte, ich hätte sie nicht alle, wäre das jetzt der Moment. »Hallo«, sage ich in die Runde. Mit einem zaghaften und dennoch heiteren Stimmchen. Als Kind habe ich mal eine Weile davon geträumt, die Zeit und die Bewegung der Menschen und Dinge um mich herum mit einem Fingerschnipsen anhalten zu können. In meiner Fantasie war ich für die anderen unsichtbar, das heißt, sie hatten keine Wahrnehmung, sodass ich herumgehen und unbemerkt beobachten und manipulieren konnte. Ich konnte zum Beispiel einfach so dem Mädchen, in das ich verliebt war, das T-Shirt hochziehen. Das hier muss ungefähr der Effekt sein. Allerdings können mich die Leute ganz deutlich sehen. Es spiegelt sich synchron in ihren Mienen, als ich einen zaghaften Schritt in Richtung des Brunnens unternehme. Das Knirschen des Schnees tönt infernalisch laut durch die Stille. Vielleicht ist das eine Art Signal. Einige fangen miteinander zu murmeln an. Ein Mann mit einer Salatgurke in der Hand macht einen Schritt auf mich zu.
Das ist mir zu gruselig. Ich will zurück in den Schrank, sofort. Ich drehe mich um und gehe.
Ich renne. Die Menschen hinter mir rennen ebenfalls. Ich werde verfolgt. Ich höre ein irritierend hochfrequentes Heulen, das mich zu nerven beginnt, bis ich begreife, dass es meiner eigenen Kehle entströmt. Ich renne beinahe eine alte Frau um, die mir entgegenkommt. Ich erwarte, dass sie mir mit roten Pupillen und angespitzten Zähnen entgegenspringt, aber sie hebt nur die Hände in Fingerlingen zum Himmel. Der Eindruck, den ich mitnehme, ist das Blitzen von Gold aus ihrem geöffneten Mund und das Quieken, das ihr entfährt, als ich ihr den Ellbogen in die Seite ramme.
In finde das Küchenfenster, und es ist noch einen Spalt geöffnet, so wie ich es verließ. Ich klettere in die fremde Küche. Ich schließe mit zitternden Fingern das Küchenfenster hinter mir. Die ersten Menschen bleiben atemlos vor dem Küchenfenster stehen und gucken mich irgendwie enttäuscht durch das Glas an. Ein vielleicht siebenjähriges Mädchen mit Zöpfen probiert die Haustürklinke. Ich stolpere durch den Raum Richtung Treppe, nehme drei Stufen auf einmal. Ich platze in das Schlafzimmer mit nur einem Gedanken im Kopf, von mentalen Scheinwerfern scharf konturiert aus dem Dunkel meiner Welt gerissen: Schrank! Aber vor dem Schrank steht jemand. Die Schranktür ist geöffnet und eine Person, eine weibliche Person, hält ein Kleidungsstück, einen Hosenanzug aus rotem Jeansstoff, in der einen Hand und einen geschwungenen Bügel in der anderen. Die weibliche Person schaut mir mit offenem Mund entgegen, der bekannte Effekt in diesen Breiten. Aber was mich jetzt verdutzt, ist, dass sie rote Locken besitzt und aus runden dunkelblauen Augen starrt und dass es sich alles in allem um Frau Merbold handelt, meine Psychotherapeutin. Wir starren uns mit offenen Mündern an.
»Frau Merbold«, keuche ich, »Sie?«
»Ha«, macht sie und springt mit dem Hosenanzug in der Hand einen halben Meter rückwärts, als hätte jemand einen Mechanismus betätigt. Hinter ihr befindet sich der Schrank.
»Was machen Sie
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