Lazyboy
Tür klappt mich zufällig nach Mailand und mit fertigem Text zurück an den Schreibtisch.
Stattdessen werde ich gleich zum Arzt laufen oder zur Therapeutin, um mir die nächste Krankschreibung abzuholen. Überhaupt, ich sollte mir einen neuen Beruf suchen. Oder zumindest ein anderes Thema. Ich hasse Musik. Ich hasse Bands. Ich verachte Plattenkritiken und ihre Schreiber, immer neue nichtssagende Bands, oder noch schlimmer, die ewig alten, und immer dieselbe durchgenudelte Musik, die sich bloß immer anders nennt.
Ich kann keine Musik mehr hören. Schon seit Jahren höre ich privat keine Musik mehr. Es ist nicht so, dass ich eine Allergie entwickelt hätte, aber es fehlt nicht mehr viel. Ich gehe auch nicht mehr zu Konzerten. Ich stehe doch nicht freiwillig doof da in einem Meer von Debilen vor einer Wand aus Krach, in einem brachialen Schwall meist drittklassiger Geräusche, mit einem schwabbeligen Plastikbecher in der Hand, aus dem ich mich bekleckere, und lasse mich von Vollidioten anrempeln oder mir in den Nacken atmen.
Wenn ich über Konzerte schreiben muss, gucke ich mir das zwei Sekunden lang auf Youtube an. Privat höre ich höchstens noch Musik, wenn ich mich einmal in der Woche rasiere, und auch dann nur uralte Platten, die mir nicht wehtun. Glücklicherweise habe ich einen äußerst spärlichen Bartwuchs. Und meine Plattenkritiken funktionieren so, dass ich andere Kritiken mit eigenen Worten kopiere, dann die Tendenz ändere und zwei, drei originelle Verweise auf Bands einbaue, die keiner kennt oder die ich mir ausgedacht habe. Die abschließende Bewertung einer CD erwürfele ich. Ein faires und objektives Verfahren.
Ich hasse meine Arbeit. Ich kann Leute nicht verstehen, die über 22 sind und trotzdem noch glauben, sie müssten sich über ihre Musikvorlieben eine Identität zusammenklauben. Armselig, hilflos. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe, jetzt, da ich krank bin.
»Was haben Sie in der Zwischenzeit erlebt?«
Frau Merbold thront hinter ihrem Schreibtisch mit verschränkten Armen. Frau Merbold, die nicht Daniela heißt, verrückt. Schön sieht sie aus. Es zieht in meiner Brust, als ich sie angucke.
»Das möchte ich lieber nicht alles im Detail erzählen«, sage ich, »sonst überweisen Sie mich gleich auf die geschlossene Station. Vor ein paar Wochen hätte ich das ja begrüßt, aber jetzt nicht mehr. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Logo«, sagt sie.
»Sie spielen keine Spielchen mit mir, oder? Wir haben uns nicht gerade an einem anderen Ort gesehen, oder? Das würden Sie nicht machen, oder, sich mir mit einem anderen Namen vorstellen und so tun, als wären Sie jemand anderes als Sie selbst?«
Frau Merbold sieht verwirrt aus, besorgt, ihre dunkelblauen Augen sind noch größer und runder als sonst, ihre Stirn zieren viele kleine Falten, wie zarte Wogen auf einem Waldsee, wenn leicht der Wind darüberstreicht.
»Worauf wollen Sie hinaus? Ich verstehe nicht?«
»Nichts«, sage ich. »Vergessen Sie’s, egal.«
»Herr Lazyboy«, sagt sie. »Ich habe in der Zwischenzeit viel über Sie nachgedacht und mich auch in meiner Supervisionsgruppe über Ihren Fall beraten, und ich möchte es einmal mit einer Deutung versuchen, wenn es Ihnen recht ist. Ich bin nicht sicher, ob Sie etwas damit werden anfangen können. Es sind allein meine Gedanken und meine Schlüsse, okay?«
Ich nicke stumm mit aufeinandergepressten Lippen. Eine Deutung ist vielleicht wirklich nicht schlecht momentan.
»Ich habe noch einmal all die Szenen und Situationen Revue passieren lassen, von denen Sie mir erzählt haben, in denen es zu diesem geheimnisvollen Bewusstseins- und/oder Raumsprung gekommen ist. Und ich komme zu dem vorläufigen Schluss, dass Sie diese Phänomene immer dann erleben, wenn Sie von bestimmten Gefühlszuständen umgetrieben sind. So habe ich es zumindest verstanden. Konkret: Sie verschwinden immer dann durch eine Tür, wenn Sie sich einsam und verlassen fühlen. Kann das sein? Können Sie etwas damit anfangen? Einsamkeit, Verlassenheit, kommen Ihnen diese Gefühle vertraut vor?«
»Äh«, sage ich nach einer gebührend langen Bedenkzeit. Was für eine Frage.
Wir schauen uns schweigend in die Augen, bis es mir zu unangenehm wird und ich zur Seite blicke. Ich muss an die Frau denken, mit der ich gestern Nacht Händchen gehalten habe. Mit der ich mich kein bisschen einsam oder verlassen gefühlt habe. Mein Blick fällt auf ein neues, gerahmtes Foto an der Wand. Das kenne ich noch nicht. Ein etwa
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