Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
gewesen war. Sie hatte viel mehr Zeit in ihrem Atelier verbracht als an irgendeinem anderen Ort der Welt. An den Wänden standen oder hingen Bilder unterschiedlicher Größe und Stilrichtungen. Leah hatte immer experimentiert, sich niemals festgelegt. Neben einer expressiven Städteansicht von Konstanz hing ein fast fotografisches Stillleben. Es war von einer Garküche in Thailand inspiriert, an der sie bei ihrer letzten gemeinsamen Asienreise eine köstliche Suppe gegessen hatten. Thal erinnerte sich an das Foto, das der Koch gemacht hatte. Lachend und mit vollen Backen schauten sie in die Kamera.
Was für eine Vielfalt gab es im Atelier zu sehen: Abstrakte und gegenständliche Gemälde, Porträts, Landschaftsbilder, Stillleben, Architekturstudien. Ölbilder in grellen, bunten Farben neben graubräunlichen Tuschezeichnungen. Feine Kreidestriche oder wild gesprühte Acrylfarben.
Thal verstand nicht viel von Kunst, aber was er sah, überwältigte ihn. Seine Frau hatte ein Universum geschaffen. Er kannte nur die Arbeiten, die sie für gut genug hielt, um sie der Öffentlichkeit zu präsentieren. Er hatte keine Ahnung, dass sie derart exzessiv gearbeitet hatte, um ein gewaltiges Werk zu hinterlassen. Als hätte sie geahnt, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Thal unterdrückte den Gedanken und wandte sich zur Mitte der Halle. Hier standen die Arbeiten der Bildhauerin Leah Braasch, auch wenn sie selbst sich nie so gesehen hatte. »Ich bin Malerin, und mein Hobby ist die Bildhauerei«, hatte sie auf einer Vernissage gesagt, bei der ihre gegenständlichen Arbeiten präsentiert wurden. Alle hielten das für vornehmes Understatement, aber Thal wusste, dass sie es ernst meinte. Trotzdem standen gut dreißig Objekte unterschiedlicher Größe und Genres im Raum. Obwohl die Halle keineswegs vollgestopft war, fühlte er sich erdrückt von der geballten Kreativität, die ihn umgab. Dazu kamen die Gerüche nach Terpentin, Acryl und Steinstaub. Er hatte das Gefühl, Leah wäre in diesem Raum körperlich anwesend. Er musste sich setzen und ging zu einer Werkbank in der Mitte des Ateliers, vor der ein Hocker stand. In Gedanken versunken öffnete er eine Schublade und nahm ein Kästchen heraus. Als er den Deckel hob, füllten sich seine Augen mit Tränen. Es dauerte eine Minute, bis er sich beruhigt hatte und die kleine Mahagonischnitzerei mit zitternden Händen aus der Schachtel nahm. Er erkannte das Holz sofort. Sie hatten es vor fünf Jahren einem Maskenschnitzer auf Bali abgekauft. Leah fand die Form des Holzstücks so vollendet, dass sie einen viel zu hohen Preis zahlte.
»Ich sehe schon jetzt, was daraus wird«, flüsterte sie ihm zu, als sie die kleine Werkstatt verließen. Auf seinen fragenden Blick legte sie ihm den Finger auf den Mund.
»Du wirst es noch früh genug erfahren.«
Er vergaß dieses Erlebnis, und erst jetzt sah er, was Leah damals vor ihrem inneren Auge hatte. Zwei fast ineinander verschmolzene Gesichter, die vor Freude, Liebe und Glück strahlten. Leah Braasch und Alexander Thal - zwei Seiten eines einzigen Kunstwerks. Er umschloss die Mahagonikugel mit beiden Händen. Sie schmeichelte sich seinen Fingern an, und Wärme durchströmte seinen Körper. Er ließ seinen Tränen freien Lauf, zum ersten Mal seit Leahs Tod weinte er hemmungslos. Noch eine Viertelstunde später saß er mit verschlossenen Händen auf dem kleinen Schemel und nahm seine Umwelt durch den Tränenschleier nur ungenau wahr. Deswegen sah er zwar, dass in einer dunklen Ecke unter der Galerie auf einer Staffelei ein Leinwandrahmen mit einer Kantenlänge von drei Metern stand. Er sah, dass Leah das Bild in viele kleine Quadrate aufgeteilt hatte. Alle anderen Details des unvollendeten Werks entgingen ihm aber, weil er in diesem Moment nicht der Kriminalhauptkommissar Alexander Thal, sondern der Witwer der Malerin und Bildhauerin Leah Braasch war, dem es endlich nach einhundertfünf Tagen vergönnt war, zu weinen.
***
Die Techniker waren schon bei der Arbeit. In ihren weißen Ganzkörperoveralls versuchten sie, alle Spuren zu sichern, die der oder die Täter hinterlassen hatten. In Sekundenintervallen blitzte die Kamera des Fotografen im Wohnzimmer auf, das durch die bis zum Boden reichenden Glasfenster von den Scheinwerfern im Garten erleuchtet war. Bettina fürchtete, dass die Arbeit der Spurensicherer auch diesmal wenig zutage fördern würde. Die Art und Weise des Einbruchs sowie der Tatort selbst deuteten auf die gleichen
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