Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
eine Besonderheit. Die Platte bestand aus strahlend weißem Carraramarmor, der kaum eine Maserung aufwies. Leah hatte ihn vor drei Jahren in einem Steinmetzgeschäft in Italien entdeckt und gekauft. Als er sie fragte, was sie mit dieser Platte vorhatte, tat sie geheimnisvoll. Zwei, drei Wochen später zeigte sie ihm ein Foto. Sie hatte das Marmorstück mit exakt dem Schriftzug versehen, mit dem sie ihre Bilder signierte. »Leah« mit einem großen, geschwungenen L, dessen Unterstrich der gesamten Schrift eine Basis gab. Die übrigen Buchstaben standen auf dieser Linie wie zufällig hingeworfen. Es war eine ausdrucksstarke Signatur, die zu Leah passte.
Thal hatte keine Ahnung, was sie mit der Marmorplatte anfangen wollte.
»Findest du nicht, dass sie ein bisschen groß ist für ein Türschild?«
»Für diese Tür gerade passend, mein Lieber. Es hat die exakte Größe der Grabplatte für ein Urnengrab auf dem Konstanzer Friedhof.«
Typisch Leah, hatte Thal damals gedacht. Wenn sie etwas machte, dann präzise und genau. Thal nahm es nicht ernst.
»Sollten dort nicht die Daten deines Lebens stehen? Eines könntest du ja schon selbst einmeißeln.«
Leahs Blick war ebenfalls heiter.
»Keine Daten. Mein Leben ist ein Kunstwerk, das braucht am Ende nur eine Signatur.«
Thal bückte sich und wischte mit der Hand die dünne Schneedecke von der Platte. Dabei fegte er einen Stein weg, unter dem ein kleiner Zettel zum Vorschein kam. Thal wollte ihn achtlos wegwerfen, ehe er bemerkte, dass er beschrieben war. Er steckte ihn in die Tasche, bevor er die Blumen aus dem Papier wickelte. Der große Strauß bedeckte das winzige Grab vollständig. Etwas anderes als eine Feuerbestattung war für Leah nie infrage gekommen. Der Körper müsse sauber von der Welt verschwinden, meinte sie. Allerdings hatte sie kaum bedacht, dass die Verbrennung in einem deutschen Krematorium ein Behördenvorgang war und keine freudvolle Feier mit heiterer Musik und gutem Essen wie auf Bali. Thal verbat sich weitere Gedanken an die Trauerfeier. Was sollte er jetzt tun? Beten? Das hatte er, der genau wie Leah vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten war, seit Kindertagen nicht mehr getan. Mit Leah sprechen? Er glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod. Leah war sich nicht so sicher, sie faszinierte die buddhistische Idee des ewigen Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt. Aber sie war genauso wenig eine Gläubige wie er selbst, der meditierte, ohne sich an die sonstigen Regeln und Rituale zu halten, die einem Buddhisten auferlegt waren. Thal stand einfach dort. Schweigend und auf Leahs Signatur blickend. Als er nach zehn Minuten spürte, dass seine Füße kalt wurden, drehte er sich um. Immer noch stumm und ohne Gruß. Trotzdem fühlte er sich erleichtert, als er zum Ausgang zurückging. Rituale auf Friedhöfen und an Gräbern waren für die Überlebenden da, ihnen sollten sie helfen, nicht den Toten. Möglicherweise brauchte er noch mehr Abschiedsrituale, um zurückzufinden in sein eigenes Leben.
Im Bus holte er den Zettel aus der Tasche. Er musste schon länger auf dem Grab gelegen haben, denn er war durchgeweicht und die Schrift so ausgebleicht, dass sie kaum noch zu entziffern war.
»Danke für deinen Glauben. Ich werde dich nicht enttäuschen. V.«
Wer hatte diesen Zettel auf Leahs Grab gelegt? Thal fiel niemand ein, dessen Name mit V begann. Aber Leah hatte viele Bekannte, von denen er nichts wusste. Es konnte auch ein unbekannter Verehrer der Künstlerin Leah Braasch sein oder einer ihrer Schüler. Thal starrte auf den Zettel in seiner Hand. Von irgendwoher tauchte ein Gedanke auf: Stand der Fotograf gar nicht zu ihm in einer Beziehung, sondern zu Leah? Wollte er sich an ihm rächen, weil er ihn für Leahs Tod verantwortlich machte? Abwegig war das nicht, schließlich fühlte er sich selbst schuldig. Thal setzte sich ruckartig auf. Jetzt nicht in Selbstmitleid verfallen. Er musste klar denken. Es kam ihm vor, als riefe Leah ihn zur Ordnung.
Reiß dich zusammen, Alex! Konzentriere dich auf den Fall. Die Frauen brauchen dich.
Das hätte sie zumindest gesagt, wenn sie noch lebte. Laut und deutlich.
Thal stieg am Theater aus dem Bus und ging in Richtung Niederburg. Fast rannte er. Endlich hatte er wenigstens eine Idee. Nicht mehr, aber immerhin. Er musste in seine Wohnung, an seinen, besser an Leahs Computer.
In der Wohnung warf er den Mantel achtlos auf den Garderobenhaken. Rein gewohnheitsmäßig streichelte er den Bauch des dicken
Weitere Kostenlose Bücher