Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
Jadebuddhas, den Leah ihm in Hongkong geschenkt hatte. Der Verkäufer hatte in einem lustigen Mix aus Englisch und Deutsch gesagt:
»Über Bauch streicheln. Every day. Für good luck.«
Er hatte sich bis heute daran gehalten, wenn er die Wohnung betrat. Viel genutzt hatte es nicht.
Auf dem Computer öffnete er zunächst Leahs Adressverzeichnis. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er alle Einträge durchgesehen hatte. Mit V gab es nur eine Valerie – Leahs Friseurin. Es musste doch noch ein anderes Adressbuch geben? Er ging zu dem Mahagonisekretär, dessen schlichtes, modernes Design Leah zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Hier folgte die Form der Funktion und nicht umgekehrt, wie bei vielen »schicken« Möbeln. Inzwischen fand auch er, es sei das schönste Möbelstück im Haus, obwohl er im Gegensatz zu Leah den Designer, einen arroganten Schweden mit seiner fantastischen Wohnung im »Paradies« und seiner Villa im Tessin, nicht leiden konnte.
In der untersten Schublade des Sekretärs fand er, was er suchte: Leahs Adressbuch mit seinem abgegriffenen Ledereinband. Aufgeregt blätterte er die Seiten um. Die meisten Namen kannte er aus der Computeradressdatei, Leah musste sie übertragen haben. Viele Einträge schienen alt zu sein, Leahs Handschrift hatte sich im Laufe der Jahre deutlich verfeinert. Andere waren durchgestrichen. Vielleicht stimmte die Adresse nicht mehr, oder Leah wollte nichts mehr mit dem jeweiligen Menschen zu tun haben. Sie konnten auch verstorben sein. Kein Name begann mit V. Weder Vor- noch Nachnamen. Wieder nichts - es war zum Verzweifeln. Trotzdem glaubte Thal daran, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Seine Intuition trog ihn selten. Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Computer und öffnete das E-Mail-Programm. Die Suchfunktion könnte helfen. Wie viele Vornamen mit V gab es? Ihm fielen nur Vera, Verena, Valerie, Valeria und Viktoria ein. Halt, er sollte sich auf männliche Namen konzentrieren. Er schrieb Volker in die Suchmaske des Programms. Kein Treffer. Genauso wenig bei Valentin und Volkmar. Vittorio lieferte auch kein Ergebnis. Es musste mehr Namen mit diesem verflixten Buchstaben geben. Viktor. Na bitte. Eine E-Mail wurde angezeigt. Ein Viktor Speer hatte sie am 13. August des vergangenen Jahres an Leah geschickt:
»Sehr verehrte Frau Braasch!
Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich die Fertigstellung meiner Abschlussarbeit erneut hinausschieben muss. Sie kennen die Gründe, und ich hoffe noch einmal auf Ihr Verständnis.
Ihr ergebener Schüler
Viktor Speer«
Um Gottes willen, wer schrieb heutzutage so einen verschwurbelten Stil, und das auch noch in einer E-Mail, wo fast alle Regeln korrekter schriftlicher Konversation aufgehoben waren? Das klang eher nach einem Achtzigjährigen als nach einem Studenten. Thal notierte sich Namen und E-Mail-Adresse auf dem kleinen Block, der neben dem Computer lag. Leah hatte auf die E-Mail nicht geantwortet. Wollte sie ihn ohnehin bald treffen? Hatte sie ihn angerufen? War ihr dieser Schüler nicht wichtig? Keineswegs alle jungen Leute, die heutzutage auf einer Kunstakademie aufgenommen wurden, verfügten über das nötige Talent. Viele erkannten das nach kurzer Zeit und wechselten das Studienfach. Andere brauchten länger und vertändelten die wertvollste Zeit ihrer Jugend. Manche gelangen gar nicht zu der Selbsterkenntnis, dass sie niemals gefeierte Künstler sein werden. Sie mussten von den Professoren auf den Boden der Tatsachen geholt werden, manchmal sehr unsanft.
Thal merkte, dass seine Gedanken abschweiften, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, das zu unterbinden. Ihm kam ein Gespräch mit Leah über ihre eigenwillige Vorstellung von Kunst in den Sinn. Vor allem ein Satz hatte ihn überrascht:
»Weißt du, dass unsere Berufe viel gemeinsam haben, Alex? Auch die Kunst schützt die Menschen.«
Als er daraufhin neckend einwandte, dass noch niemals ein Gemälde einen Mörder vom Morden abgehalten habe, richtete sie sich kerzengerade im Sessel auf.
»Doch, mein Lieber. Zum einen, weil die Menschheit durch Kunst besser wird. Zum anderen ganz direkt. Glaub mir, es gibt genug Künstler, die vergewaltigten oder mordeten, wenn sie ihre Obsessionen nicht in Romanen, Bildern oder Skulpturen ausleben könnten.«
Weiter seinen Gedanken nachhängend, öffnete er die Datei mit Leahs Werken. Er klickte sich durch die Fotos, ohne sie genau zu betrachten, sondern folgte weiter dem Strom seiner Gedanken. Leah hatte recht, hinter
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