Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
manchem Künstler, der düstere Fantasien auf die Leinwand brachte, mochte sich in Wirklichkeit ein brutaler Totschläger verbergen, dem es reichte, seine dunklen Triebe künstlerisch auszuleben. Wenn dem so war, konnte es nicht auch umgekehrt sein? Konnte ein Triebtäter sich nicht künstlerischer Mittel bedienen, um seinen Taten vor sich selbst das Verbrecherische zu nehmen?
Was war das? Irgendetwas auf dem Foto, das er vor einer Sekunde weggeklickt hatte, stoppte seinen Gedankenfluss. Er blätterte zum vorigen Bild zurück. Es war die Aufnahme eines kleineren Stilllebens mit einem Strauß Rosen, die denen ähnelten, die er heute auf Leahs Grab gelegt hatte. Das war es aber nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Vielmehr interessierte ihn das großformatige Bild, das dahinter an der Wand lehnte. Er markierte den entsprechenden Bildausschnitt und vergrößerte ihn, bis das Gemälde im Hintergrund den Bildschirm ausfüllte. Es handelte sich um eines der unvollendeten Werke. Die Leinwand war in sechs Reihen mit je sechs Feldern aufgeteilt. Die Felder der oberen drei Reihen hatte Leah bereits gemalt, in der vierten Reihe waren die letzten zwei Felder leer, genauso wie alle Felder der unteren zwei Reihen. Anscheinend wollte Leah in jede Reihe sechs Porträts eines Mannes malen. Zum Teil waren nur die Gesichter zu sehen, zum Teil auch die Körper - alle in verschiedenen Stadien der Lust. Thal hielt den Atem an. Sechs Bilder. Jeweils ein Modell. Lust. Versprechen. Verführung. Hingabe.
Er nahm mit zitternden Fingern einen Memory-Stick aus der Schublade, schob ihn in den USB-Kontakt und kopierte das Bild. Anschließend verließ er die Wohnung genauso hektisch, wie er sie vor einer Stunde betreten hatte.
***
Bettina Berg war in die Lektüre von Stephanie Bohlmanns Befragungsprotokollen vertieft, als Thal die Bürotür aufriss. Er atmete hastig, sein Gesicht war gerötet, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich.
»Wer ist denn hinter dir her?«
Thal reagierte nicht auf ihre Frage, sondern zog sich mit hektischen Bewegungen den Mantel aus und warf ihn auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, auf den er sich anschließend mit einem hörbaren Schnaufen fallenließ.
»Wenn dich ein kleiner Spaziergang schon so anstrengt, solltest du unbedingt etwas für deine Kondition tun.«
Wieder reagierte Thal nicht auf die flapsige Bemerkung seiner Kollegin, sondern holte einen USB-Stick aus der Jackentasche. Während er ihn vor Bettina auf den Tisch legte, fragte er:
»Hat Frau Föglein mit F ein vernünftiges Phantombild auf die Reihe gebracht?«
Wenigstens hat er seinen Humor nicht verloren, dachte Bettina. Die Frage war unnötig. Ob ein Phantombild taugte oder nicht, stellte sich erst heraus, wenn der Gesuchte gefasst war. Bettina wies auf den Ordner auf ihren Schreibtisch, in den sie die Kopien gelegt hatte. Thal klappte die Mappe auf und warf einen Blick auf das Bild, ohne es in die Hand zu nehmen.
»Sieht brauchbar aus. Hast du es an die Presse gegeben, Bettina?«
»Klar. Aber das bringt nicht viel. Morgen ist Sonntag.«
»Fernsehen?«
Bettina führte die Hand zum Kopf, als wolle sie salutieren.
»Erledigt, Chef!«
Der zuständige Redakteur hatte ihr versichert, das Phantombild in allen Regionalnachrichtensendungen ab achtzehn Uhr zu zeigen.
Thal deutete auf den Speicherstick.
»Schau dir das an.«
Während Bettina unter den Schreibtisch kroch, um den USB-Stecker zu finden, klingelte Thals Handy.
»Ah, hallo Herr Kaufman. - Gut, also Jason. - Ja, ich habe Ihnen auf die Mailbox gesprochen, schön, dass Sie zurückrufen. Sind Sie in München? - Ja, das kann ich verstehen. Ich mag die Fastnacht auch nicht gerne. - Sie sind in Lindau, prima! - Jason, es wäre dringend, dass wir uns treffen. Wir haben hier einen Fall, und er hängt womöglich mit einem von Leahs Schülern zusammen. - Nein, das dauert zu lange. Einfacher wäre es, wenn wir uns in Friedrichshafen treffen. - Gut! Also um fünf Uhr im Café des Zeppelinmuseums. - Ja, bis dahin Jason.«
Bettina steckte ihren Kopf unter der Schreibtischplatte hervor und schaute Thal fragend an.
»Später! Schau dir erst das Bild an.«
Bettina öffnete die Datei und zog hörbar die Luft ein. Sie wusste sofort, was Thal meinte.
»Ist das von Leah?«
»Ja. Was siehst du?«
»Porträts verschiedener Männer in unterschiedlichen Stadien der – wie soll man sagen? - Lust, Ekstase?«
»Genau! Hätte Leah das Bild vollendet, hätten wir hier
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