Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
und fummelte den Speicherchip in den Computer. Schweigend klickte sie sich durch die Fotos. Thal rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Als sie das letzte Bild geöffnet hatte, räusperte er sich.
»Na, was meinst du?«
Bettina zuckte die Schultern. »Irgendein Spinner, der sich daran aufgeilt, seine Frau oder Freundin in demütigenden Posen zu fotografieren.«
»Aha! Und warum schickt er ausgerechnet mir die Fotos?«
Alexander wirkte ungehalten. Das sah ihm nicht ähnlich, normalerweise war er die Ruhe selbst und geduldig wie ein Zen-Mönch.
Bettina drehte ihren Stuhl zur Seite, was dieser erneut mit einem lauten Quietschen kommentierte.
»Kennst du diese Frau?«
Thal schloss die Augen und legte den Kopf leicht in den Nacken.
»Darüber denke ich die ganze Zeit nach, aber ich erinnere mich nicht, ihr jemals über den Weg gelaufen zu sein.«
»Meinst du nicht, dass es ein dummer Fastnachtsscherz sein könnte, mit dem man den Leiter der Konstanzer Mordkommission ärgern will?«
Thal schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Außerdem: Wieso bist du sicher, dass die Frau noch lebt? Vielleicht haben wir hier die Bilder einer Leiche und damit Tatortfotos auf dem Bildschirm.«
»Das wäre das erste Mal, dass der Täter den Tatortermittlern die Arbeit abnimmt.«
Bettina hielt diese Idee für abwegig, bis Thal ihr von seiner Entdeckung erzählte, dass die Fotos nicht in der Reihenfolge entstanden waren, die der unbekannte Fotograf suggerieren wollte. Sie wiegte den Kopf und sagte bedächtig:
»Du meinst, wir haben es mit einer Botschaft zu tun?«
»Mit einer Botschaft und mit einer Inszenierung. Und vielleicht sogar mit Mord.«
»Wenn das stimmt, Alexander Thal, ist das der verrückteste Fall, den diese verschlafene Stadt jemals gesehen hat.«
Beide wandten sich wieder den Fotos auf dem Bildschirm zu und versuchten, mehr Informationen zu gewinnen. Ließen sich irgendwelche Schlüsse über die Frau oder den Ort ziehen, an dem die Aufnahmen entstanden waren? Viel konnte Bettina nicht in ihrer Mappe notieren. Die Kleidung der Frau war billig. Die Felljacke gab es für ein paar Zehn-Euro-Scheine beim Kleidungsdiscounter. Einzig die Jeans war ein Markenprodukt aus dem gehobenen Preissegment, allerdings schon älter. Die Frau lag auf einem schwarzweißen Mosaikfußboden. Thal meinte, das könne auf den Flur eines Hauses hinweisen, welches in den zwei Jahrzehnten nach 1900 erbaut worden wäre. Bettina staunte über so viel Architekturkenntnis, weiter brachte sie diese Erkenntnis aber nicht. Häuser aus dieser Zeit gab es in der im Krieg unzerstörten Stadt zuhauf. Auch die Frage, ob das Opfer noch lebte, ließ sich nicht klären. Es war zwar keine Verletzung zu sehen, aber der glasige Blick und der Speichelfaden im Mundwinkel verhießen nichts Gutes.
»Bei Bewusstsein war sie nicht, als die Fotos entstanden«, meinte Thal.
Bettina nickte. Sie nahm den Plastikbeutel mit dem Briefumschlag vom Schreibtisch.
»Den Umschlag und den Chip sollen sich die Techniker ansehen.«
»Das wird nicht viel bringen, der Brief ist durch zig Hände gegangen. Frage sie besser, ob man die Dateiinformationen manipulieren kann. Hoffentlich haben wir wenigstens hier etwas Verlässliches.«
Bettina kopierte die Fotos auf ihren PC und steckte den Chip zurück in den Plastikbeutel.
»Ich schicke die Bilder an den Doc. Schau’n wir mal, was er meint.«
Mehr gab es in diesem Fall – so es überhaupt einer war – nicht zu sagen, geschweige denn zu tun. Es entstand ein bedrückendes Schweigen, ehe sich Thal von seinem Stuhl erhob. Immer noch wortlos ging er zur Tür. Bettina konnte nicht glauben, dass er jetzt ohne Erklärung verschwinden wollte. Monatelang ließ er nichts von sich hören, tauchte mir nichts, dir nichts mit dieser merkwürdigen Geschichte im Gepäck auf und wollte jetzt gehen, ohne ein persönliches Wort mir ihr zu wechseln? Hatte er sich durch Leahs Tod so verändert?
Thal hatte die Türklinke in der Hand, als Bettina sich räusperte.
»Alexander!«
Er drehte sich zu ihr um. Sein Blick wirkte abwesend wie zu Beginn ihres Gesprächs.
»Alexander, heute ist Mittwoch. Wir waren lange nicht mehr bei Antonio.«
»Gut, sehen wir uns dort«, antwortete Thal und verließ den Raum.
***
Es war noch kälter geworden. Er zog die Mütze tief ins Gesicht, als er in die Unterführung vom Hafen in die Stadt trat. Im Sommer saßen hier die Bettler und Musikanten, die für ein paar Cent ihren
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