Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
ihrer Größe von einem Meter siebenundsiebzig selbst die meisten ihrer männlichen Kollegen überragte, wirkten ihre Bewegungen grazil. Sie trug einen engen, wadenlangen, weißen Wollrock, dessen seitlicher Schlitz bei jedem Schritt ihre perfekten, in blickdichte, ebenfalls weiße Strümpfe gehüllten Beine bis oberhalb des Knies sehen ließ. Der cremefarbene Pullover war eng geschnitten. Um den Hals trug sie ein braunes Tuch, das zu ihrem Haar und ihren Augen passte. Von der Schulter baumelte eine lange, nicht billige Handtasche.
Thal vermutete, dass Bettina sich umgezogen und deshalb verspätet hatte. Sie wohnte im äußersten Konstanzer Vorort, mit dem Auto brauchte man in die Innenstadt mindestens fünfundzwanzig Minuten. Sie war selbstbewusst genug, um derart elegant gekleidet im Büro zu erscheinen, aber heute Morgen hatte sie etwas anderes getragen. Sie hasste die »Kriminalkommissaruniform«, wie sie es nannte. Tatsächlich trugen die meisten Polizistinnen Jeans und Schlabberpulli, als müssten sie ständig wie im Fernsehkrimi über Zäune und Mauern hinter Verdächtigen herjagen. Bettina Berg dagegen kleidete sich geschmackvoll weiblich, weil sie wusste, dass es bei Ermittlungen von Vorteil sein konnte, neben ihrem klugen Kopf ihren schönen Körper einzusetzen.
Als sie den Tisch erreichte, erhob sich Thal. Eine Sekunde standen sie sich gegenüber und blickten sich in die Augen, ehe Bettina Berg ihn umarmte. Eine lange vermisste Wärme durchströmte ihn. Als sie sich setzten, hielt Bettina noch für einen kurzen Moment seine Hand umfasst. Dann lächelte sie ihn an, wies auf seine zu einem Zopf zusammengebundenen Haare und sagte:
»Jetzt siehst du schon zivilisierter aus als heute morgen.«
»Und du bist wie für einen festlichen Empfang gekleidet.«
Bettina richtete sich kerzengerade auf.
»Gefällt es dir? Ich dachte, es gibt etwas zu feiern. Schließlich scheinst du wieder unter den Lebenden zu weilen.«
Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, da senkte sie den Blick.
»Entschuldige«, murmelte sie.
»Schon gut, Bettina.«
Thal wollte auf keinen Fall, dass die fröhliche Stimmung umschlug. Das erste Mal seit Monaten fühlte er sich halbwegs wohl.
Fast gleichzeitig sagten sie: »Und, wie geht es dir?«
Beide konnten ein Lachen nicht zurückhalten. Die danach eintretende Stille beendete Thal.
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie es mir geht. Ich habe das Gefühl, aus meinem Leben gefallen zu sein. Manchmal denke ich, dass der Schmerz langsam nachlässt, aber dann sehe ich ein Bild, lese einen Satz in einem Buch oder denke an einen Ort, an dem ich mit Leah glücklich war, und es zerreißt mich schier. In anderen Momenten glaube ich tatsächlich, dass es besser wird. So wie jetzt zum Beispiel.«
Thal sah einen feuchten Glanz in Bettina Bergs Augen. Er war froh, dass Antonio an den Tisch trat und sie fröhlich anschmachtete: »Signora, que bella«! Während er die Speisekarte überreichte, spulte er in einem halsbrecherischen Deutsch die Tagesspezialitäten herunter.
Ohne einen Blick in die Karte bestellte Thal einen Salat sowie Spaghetti Marinara, während sich Bettina Berg für einen Tomatensalat und einen Scampispieß entschied.
»Unde alse vino?«, fragte der Wirt.
Bettina schaute ihren Kollegen fragend an: »Wie immer einen Liter Hauswein?«
Thal schüttelte den Kopf: »So weit bin ich noch nicht, ich bleibe beim Wasser. Aber du kannst natürlich gerne ...«
Bettina schluckte die Frage herunter, die ihr auf der Zunge lag, und bestellte einen Viertelliter »vino della casa«.
Als Antonio gegangen war, beugte sich Thal vor und goss der Kollegin Wasser ein.
»Jetzt aber zu dir, Bettina. Wie geht es dir, du siehst ein bisschen müde aus.«
»Danke für das Kompliment«, sagte sie und trank einen Schluck Wasser. »Aber du hast recht. Es war ein bisschen viel in der letzten Zeit. Du weißt, wie unterbesetzt wir sind. Die Neue ist vor allem damit beschäftigt, ihren Platz bei all den Machos zu finden, und Gerth spielt sich als Chef auf. Wenn er wüsste, dass du bald zurückkommst, würde er toben vor Wut.«
Thal legte ihr die Hand auf den Arm.
»Ich weiß noch nicht, ob ich das will.«
Wieder sah er Trauer in Bettinas Augen. Deshalb fragte er:
»Ist es so schlimm?
»Gerth ist ein teamunfähiger, egozentrischer Idiot, dem es ausschließlich um seine Karriere geht. Er kann dir nicht das Wasser reichen, also versucht er, auf andere Weise an deinen Posten zu kommen. Er schleimt sich ein
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