Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
schon waren die beiden Frauen
verschwunden.
»Und was mache ich nun?«, fragte sich der Zurückgelassene
selbst und schaute durch den leeren Flur auf die Haustür.
Zunächst einmal beschloss er, eine Flasche Rotwein zu öffnen
und es sich im Wohnzimmer bequem zu machen. Auf dem Kaminsims lag noch der
Bella-Block-Roman, den Eiken ihm empfohlen hatte. Er nahm sich das Buch und
setzte sich in den Ohrensessel, nachdem er den Kamin angefeuert hatte. In
eigener Sache konnte er heute ohnehin nichts mehr erreichen, er musste schlicht
abwarten, bis Brodersen sich meldete und die angeforderten Informationen aus
Kiel und London kamen.
»Die schöne Mörderin« rief durch ihr Handeln und dessen
Bewertung in Leander widersprüchliche Empfindungen hervor, was allein schon
irritierend für ihn war, da er bislang immer eine eindeutige Rechtsauffassung
vertreten hatte. Irgendetwas tief in seinem Unterbewusstsein trat offenbar in
Resonanz zu dem bislang Undenkbaren. Und so war die Lektüre alles andere als
eine Entspannung oder gar ein Genuss für den beurlaubten Kriminalhauptkommissar.
Im Gegenteil: Sie stürzte ihn in heftige Auseinandersetzungen mit sich selbst
und seiner Berufsauffassung. Leander hatte einige Mühe, die dadurch ausgelöste
innere Aufwallung anschließend wieder in den Griff zu bekommen. Bedauerte er
nach Beendigung der Lektüre eines Romans sonst immer, dass er aus der
Atmosphäre, die ihn mitunter für Wochen integriert hatte, nun wieder
hinausgeworfen wurde, so war das diesmal anders. Er spürte, dass ihn Die
schöne Mörderin noch längere Zeit beschäftigen würde.
Aber was war es eigentlich, das Leander so in Unruhe versetzte?
Er spürte diesen Fragen nach und beschloss endlich, dass Doris Gercke sein
Grundproblem angesprochen hatte. Nur so war die Resonanz zu erklären. Das
System, für das er seit über zwanzig Jahren tätig war und das er nun so sehr in
Frage stellte, war nicht einmal gezwungen, sich mit den eigenen
Unzulänglichkeiten und den falschen Wertmaßstäben auseinanderzusetzen, die es
für Recht und Ordnung hielt. Aber wer war eigentlich das System? Leander
schauderte, als er sich diese Frage stellte, und rückte noch etwas näher an das
Kaminfeuer heran. Und was war Gerechtigkeit?
Mörder wurden gefasst und vor Gericht gestellt, und ihre
Lebensgeschichten mitsamt ihren Motiven konnten allenfalls mildernde Umstände
sein. Dabei stellte sich nur am Rande die Frage, ob das Opfer den Tod nicht
vielleicht sogar verdient hatte. Nur: Wer hatte schon den Tod »verdient«? Und
wer durfte sich anmaßen, darüber zu entscheiden, ob ein Mensch ein Recht auf
Leben hatte oder nicht? Rückte man mit solchen Gedanken nicht gefährlich nah an
das verbrecherische System der Nazis, die zwischen wertem und unwertem Leben
unterschieden hatten? Konnte darüber hinaus ein Rechtsstaat wie der heutige
zulassen, dass jemand sich das Recht herausnahm, einen Menschen zu töten?
Natürlich nicht!, schalt sich Leander, und doch war da so ein Gefühl …
Als er erschrocken bemerkte, wie weit er sich gedanklich von
seinen Grundsätzen entfernt hatte, die einstmals für die Entscheidung, Polizist
zu werden, verantwortlich gewesen waren, trat Leander die Flucht nach vorn an.
Er schob die ungewohnten Gedanken dem Rotwein zu und beschloss, sich erst
wieder damit zu beschäftigen, wenn er mehr Distanz hatte und weniger emotional
damit umging. Jetzt war nicht die Zeit dazu. Stattdessen wollte er sich lieber
doch wieder seinem aktuellen Problem zuzuwenden.
So öffnete er die Stahlkiste, holte die Ordner mit der
Aufschrift Henning und mit den Zeitungsartikeln heraus, die er schon
gesichtet hatte, und stapelte sie auf dem Fußboden. Der nächste Ringordner aus
blauem Kunststoff trug keine Aufschrift.
Als Leander ihn durchblätterte, zeigte sich einmal mehr der
fast schon fanatische Ordnungssinn seines Großvaters. Das erste Blatt enthielt
eine Aufstellung von Immobilien auf der Insel und auf dem Festland, die Leander
zunächst einmal nichts sagten. Als er dann weiterblätterte, fand er zu jeder
dieser Immobilien eine Art Exposé mit genauen Details über Lage und
Ausstattung, erwartete Mieteinnahmen und Rentabilitätsrechnungen. Daran
angeheftet waren Verträge, in denen Hinnerks prozentuale Beteiligung notariell
beglaubigt war. In der Regel handelte es sich um Fünf-Prozent-Beteiligungen, in
der Summe ein enormes Vermögen, wenn der Kommissar bedachte, dass der alte Mann
sein Leben lang Fischer gewesen war.
Besonders
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