Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
gewesen waren.
Ȇber diesen Williamson habe ich leider nichts herausgefunden.
Der kam nicht von der Insel, muss mit seinen Eltern vom Festland gekommen sein.
Jedenfalls hatten sie zu dem Zeitpunkt offenbar keinen Besitz hier.«
Brodersen schenkte sich Tee und Rum nach und schlürfte
genüsslich.
»Sag mal, wenn du jetzt bei uns bleibst, hast du dann nicht
Lust, in die Politik zu gehen?«
»Mit Sicherheit nicht«, antwortete Leander so entschlossen und
schnell, dass er sich sofort für diese heftige Antwort schämte. »Entschuldige,
aber Politik ist nichts für mich. Wenn ich mir angucke, was für Typen sich da
in Kiel und Berlin tummeln, nein danke.«
»Du musst ja nicht so einer
werden«, wandte Brodersen ein. »Auch wenn mein Beispiel von eben zeigt, dass
ich bestimmt nicht mit ausgestrecktem Finger auf die anderen Parteien zeigen
sollte, aber es gibt auch noch ehrliche Menschen unter uns Politikern, die sich
wirklich für das Gemeinwohl einsetzen.«
»Ja, genau, und die werden dann ausgenutzt und aufgerieben.
Karriere machen die meisten jedenfalls nicht, und wenn doch, dann zwingt sie
schon das politische Alltagsgeschäft, Kompromisse zu machen, die weit von dem
entfernt sind, was sie einmal wollten. Realpolitik ist undankbar.
Fundamentalkritik, die man nicht in die Tat umsetzen muss, ist da viel
leichter. Ich würde mich ununterbrochen aufregen über das Klein-Klein, mit dem
ihr euch abmühen müsst, und gerade aufregen will ich mich nicht mehr.«
»Nun denn«, sagte Brodersen und erhob sich. »Ich muss wieder,
habe noch einen Stapel Klausuren da liegen, die will ich korrigiert haben,
bevor meine Familie wieder aufläuft.«
»Das kenne ich«, stimmte Leander ihm zu. »Meine Frau ist auch
Lehrerin. Wenn ich am Wochenende oder während der Schulferien ausnahmsweise mal
Zeit hatte, durfte ich die Kinder beschäftigen, weil sie ständig etwas zu
korrigieren hatte. Und da heißt es dann immer, ihr hättet nachmittags frei.«
»Mach was dran«, sagte Brodersen und schlüpfte wieder in seinen
dicken Mantel. »Dafür sind wir Beamte, hochbezahlt und noch dazu mit
unglaublichen Privilegien wie Unkündbarkeit und einer unanständig hohen Pension
ausgestattet, jedenfalls wenn man den Medien glauben darf. Spätestens als Greis
habe ich dann die nötige Zeit zum Prassen.«
Leander begleitete seinen Freund zur Haustür.
»Was habt ihr denn Silvester vor«, erkundigte sich Tom, als er
seinen Mantel anzog. »Habt ihr Lust, zu uns zu kommen?«
Leander berichtete von der Einladung bei Petersen, worauf Tom
Brodersen leise durch die Zähne pfiff.
»Alle Achtung, da kommt unsereiner nicht hin.«
»Werde Bürgermeister«, schlug Leander vor. »Dann braucht er
dich und lädt dich auch ein.«
»Das wäre es wert«, stimmte Brodersen lachend zu, grüßte kurz
über die Schulter und verschwand im Schneetreiben in Richtung Fußgängerzone.
Leander schloss die Tür und kehrte in die Wohnstube zurück. Was
Lena und Eiken wohl gerade trieben? Er legte ein paar Holzscheite nach, setzte
sich in seinen Sessel und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften weit in
die Vergangenheit zurück. Er stellte sich seinen Großvater in jungen Jahren
vor, als Fischer auf einem Kutter, der im Hafen vertäut lag. Die Straßen und
Häuser Wyks waren merkwürdig fremdartig eingefärbt, so, wie er es aus den
Filmen über das Dritte Reich kannte, in denen Brauntöne und Ziegelsteine
vorherrschten. Jetzt legte der Kutter ab und verließ den Hafen, und auf einmal
befand er sich mitten im Sturm. Sein Großvater war jetzt ein alter Mann, der
verzweifelt das Ruder festhielt, während die Haffmöwe wie eine
Nussschale hin und her geworfen wurde. Und dann schlugen plötzlich haushohe
Wellen über das Deck und brachten den Kutter zum Kentern. Der Alte riss die
Arme empor und tauchte in den Wellen unter. Ein paarmal kam er noch hoch, Augen
und Mund vor Schrecken weit aufgerissen, dann blieb er für immer unter Wasser,
während riesige Wellen über eine endlose See rollten, bis Leander von seinen
eigenen Schreien wach wurde.
Das Alt Wyk lockte immer noch mit »Original
Föhrer Deichlamm« und war an diesem Abend angefüllt mit einem Stimmengewirr,
das Leander für einen Moment vollständig okkupierte und den alten Pfeifton in
seinen Ohren wachrief, an den er in den letzten Tagen gar nicht mehr hatte
denken müssen. Eiken und Lena saßen an einem Tisch in der rechten hinteren Ecke
des Restaurants und winkten, als sie Leander eintreten sahen. Sie
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