Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
wo ihr hingegangen seid, denn anders?«
Erik Petersen lachte auf.
»In Hamburg? Quatsch! Nach den englischen Bombardements haben
sich da alle erst recht als Opfer und nicht als Täter gefühlt. Aber es waren
dort nicht unsere eigenen Väter, also fühlten wir uns in der Entfernung einfach
freier. Natürlich war die Situation in allen Teilen der Bonner Republik im
Wesentlichen gleich. Deshalb sind Bjarne und ich damals in die SPD eingetreten.
Willy Brandt, das war unser Held. Der hatte gegen die Nazis gekämpft und wollte
Demokratie ins Nachkriegsdeutschland bringen, so wie wir sie verstanden haben:
offen über alles reden können! Über alles, versteht ihr? Kein Kiesinger mit
Nazi-Vergangenheit, kein Filbinger, der Todesurteile noch nachträglich für
Recht erklärte. Brandt war unsere Hoffnung, er stand für die Zukunft, und
deshalb haben wir ihn unterstützt. Die Reaktion der CDU auf seine Kandidatur
hat uns noch zusätzlich angefeuert. Man versuchte damals, die Tatsache, dass
Willy Brandt eigentlich Herbert Frahm hieß und im Dritten Reich aus Deutschland
geflohen war, so zu verdrehen, als sei er ein Verbrecher gewesen, der ins
Gefängnis gehörte, aber nicht ins Kanzleramt.«
»Mein Vater hat oft von der Zeit erzählt, aber dich hat er nie
erwähnt«, wandte Leander immer noch skeptisch ein.
»Nicht? Na ja, er war wohl schwer enttäuscht von mir. Weißt du,
damals passierte dann die Sache mit Guillaume, dem Spion an Brandts Seite, und
Brandt musste zurücktreten. Mir schien in Deutschland alles so aussichtslos.
Ich sah nur noch zwei Wege: in den Untergrund gehen und kämpfen, oder
Deutschland für immer den Rücken zukehren. Terrorist werden wollte ich nicht.
Also bin ich dann wirklich abgehauen, rüber nach Amerika. Zuerst Argentinien,
aber da waren so viele alte Nazis, dass ich mich fast schon wie zu Hause
fühlte, und dann in die USA. Ich habe mein Jura-Studium abgeschlossen, das ich
in Hamburg begonnen hatte, ein paar Jahre an der Uni gearbeitet – Harvard übrigens
– und dann in einer Kanzlei, die sich auf Bürgerrechte spezialisiert hatte.
Heute bin ich selbstständig und vertrete hauptsächlich Mandanten, deren
Bürgerrechte vom Staat mit Füßen getreten wurden. Davon wird man nicht reich«,
er wies mit der Hand um sich, um den Unterschied deutlich zu machen, »aber es
reicht zum Leben. Und das gute Gewissen ist eh unbezahlbar, wenn man in einer
Zeit aufgewachsen ist, in der alle so belastet waren.«
»Mein Vater ist in Hamburg geblieben und Geschichtsprofessor
geworden.«
»Ich weiß, ich habe mehrfach versucht, den Kontakt wieder
aufzunehmen, aber er hat mir nicht verziehen. Also habe ich seinen Werdegang
aus der Ferne verfolgt. Bjarne war immer der Stärkere von uns beiden und wollte
vor der Schlange nicht weichen. Ich bin getürmt, und das hat er mir
übelgenommen. Als ich vor ein paar Tagen gehört habe, dass du hier auf der
Insel bist, habe ich meinem Vater die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder
er sucht den friedlichen Kontakt, oder ich reise sofort wieder ab. Das Ergebnis
kennst du ja. Mein Vater weiß, dass er nicht mehr viele Jahre hat, und da will
er keinen Streit mit seinem Sohn riskieren.«
»Wir hatten eher mit harten
Bandagen gerechnet als mit einer Einladung«, wandte Lena ein und erzählte von
den Einbrüchen und ihrer Vermutung, sein Bruder könne dahinterstecken.
»Hauke? Nein! Der ist ein Weichei. Aber meinem Vater traue ich
so etwas zu, ihm und seinem Freund Enno Jessen. Die gehen über Leichen, wenn es
nur genügend Gewinn bringt. Aber jetzt habt ihr nichts mehr zu befürchten, die
große Cäsarenrede vorhin war ein Friedensangebot.«
»Das Problem ist, dass ich mich nicht einseifen lasse«, erklärte
Leander. »Es gibt nun mal Verdachtsmomente, den Tod meines Großvaters
betreffend, und denen werde ich weiter nachgehen.«
Erik Petersen runzelte die Stirn.
»Ich hörte davon. Du glaubst, es könnte Mord gewesen sein. Wenn
ich eben gesagt habe, die gingen über Leichen, dann muss ich eine kleine, aber
entscheidende Einschränkung machen: Seine Freunde sind für meinen Vater tabu.
Niemals hätte er dem alten Heinrich etwas angetan. Und Hauke, wie gesagt, der
hat gar nicht das Format dazu, so weitreichende Entscheidungen alleine zu
treffen.«
»Was ist mit Enno Jessen?«, wandte Lena ein.
»Enno, ja, der ist in der Tat
skrupellos. Wenn überhaupt etwas an eurem Verdacht ist, dann liegt der
Schlüssel da. Aber jetzt mal ehrlich: Wie wollt ihr das Ganze
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