Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
sehen
war, fehlte nun auf dem breiten gepflasterten Platz mit dem Gezeitenbrunnen,
der die Promenade einleitete. Als Leander sich wieder dem Meer zuwandte, fiel
sein Blick auf den breiten Holzsteg, der sich von der Strandpromenade weit ins
Watt hinaus schob. Das war die Mittelbrücke, die im Sommer immer dicht
bevölkert gewesen war. In der kalten, feuchten Luft dieses Winterabends bot
sich ihm ein weit friedlicheres Bild: Im Licht der Laternen standen nur
vereinzelt Pärchen jeden Alters am Geländer und blickten auf die schwarze
Wasserfläche hinab, die spiegelglatt wie Öl vor dem schneebedeckten Sandstrand
dümpelte. Am Ende weitete sich der Steg zu einer Plattform, auf der im Sommer
ein DLRG-Häuschen in der Form eines Strandkarrens gestanden hatte und die jetzt
komplett leer war.
Leander wechselte über den Sandwall und betrat die Mittelbrücke . Links und rechts standen in größeren Abständen weiße Sitzbänke vor den
Geländern, die aber angesichts der feuchten Kälte nicht besetzt waren. Leanders
Schritte knirschten im Schnee und federten auf den Holzplanken. Er schlenderte
bis zum Ende des Stegs und stellte sich an das Geländer, die Hände tief in den
Manteltaschen, da es hier draußen empfindlich kalt war, ein leichter Wind wehte
und die Feuchtigkeit schmerzhaft in die Gelenke zog. Irgendwo da draußen in der
Dunkelheit musste die Hallig Langeneß liegen mit ihren Warften und den
Hallighäusern, deren Lichter heute aber nicht durch den Dunst drangen. Es war ungewöhnlich
still für Leander, der als Stadtmensch abends ein anderes Geräusch-Niveau
gewohnt war. Er wandte sich um und trat an das Geländer auf der Inselseite. Die
Lichter der Geschäfte und der Laternen spiegelten sich bunt auf der
Wasseroberfläche, die so ruhig war, dass die Spiegelbilder lediglich in die
Länge gezogen, darüber hinaus aber unverzerrt wiedergegeben wurden. Leander
schob den Schnee beiseite, lehnte sich mit den Ellenbogen auf das Geländer und
steckte seine Hände unter die Achselhöhlen, um sie vor der Kälte zu schützen.
Direkt vor sich erkannte er den Buchladen, rechts daneben das Inselcafé ,
links ein Teegeschäft. Er ließ seinen Blick den Sandwall entlanggleiten, vorbei
am Kurhaus, das mit Kinoreklame lockte. Davor erkannte er die dunklen Umrisse
einer Konzertmuschel, wie sie früher in den Seebädern üblich gewesen waren, da
Urlauber und Kurgäste offenbar mehrheitlich unter Geschmacksverirrung litten
und Kurkonzerte besuchten, vergleichbar mit Heimatabenden in bayerischen
Urlaubsorten.
Diese Gefahr schien Leander angesichts der Jahreszeit momentan
gebannt. Er blickte auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr, die 23.17 Uhr
anzeigte – reichlich spät nach so einem langen Tag. Außerdem fröstelte Leander
inzwischen in der nasskalten Nachtluft, und so zog es ihn allmählich in die
warme Stube und ins Bett. Die Eindrücke, die er an diesem Abend gewonnen hatte,
gefielen ihm. Die Inselhauptstadt schien im Winter ruhig und gemütlich zu sein,
überschaubar und auf eine entrückte Weise friedlich. Genau das hatte er gesucht
nach der gewaltsamen Hektik und Bedrohung, die sein Leben im Zentrum des Verbrechens
sonst bestimmten. Hier, das spürte Leander, bekam er eine neue Chance, in tiefem
Frieden mit sich und der Welt zu leben – wenn er erst einmal zu sich selbst
zurückgefunden hatte. Das aber, da machte er sich gar nichts vor, würde ein
schwieriger Weg werden, über das Kopfsteinpflaster der letzten vierzig Jahre,
das so manches Schlagloch enthalten und seine Stoßdämpfer nachhaltig beschädigt
hatte. Außerdem musste er sich nach und nach allein durch die Leben seines
Vaters und seines Großvaters wühlen, bis er schließlich bei sich selbst
anlangen würde.
Den Rückweg wählte Leander wieder durch die Mittelstraße. Er
wollte nun auf kürzestem Weg ins Bett. Aus dem Inselcafé drangen laute
Musik und noch lauteres Stimmengewirr, die Fußgängerzone selbst lag ruhig da,
denn hier gab es außer einer kleinen Weinstube, die längst geschlossen hatte,
und wenigen kleinen Bistros mit Fisch-und Steak-Angebot keine vergleichbare
Gastronomie. Schnell erreichte er die Wilhelmstraße und sein kleines Friesenhaus.
Leander hängte seinen Mantel an die Garderobe und stellte fest,
dass es kalt im Haus war. Er betrat das Wohnzimmer und fühlte am Heizkörper.
Der war lauwarm. Leander überlegte einen Moment, ob es sich noch lohnte, ihn
weiter aufzudrehen oder gar den Kachelofen anzuheizen, aber er entschied sich
dagegen.
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