Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
ab zwanzig Uhr im Wrixumer Hof stattfinden sollte. Er
schaute auf seine Armbanduhr und stellte anhand der Datumsanzeige fest, dass
das ja schon morgen Abend war. Gleich nach seiner Rückkehr in sein Friesenhäuschen
würde er die Anmeldung telefonisch nachholen. Hoffentlich war es nicht zu spät
dazu, aber in der Annonce hatte ja nichts von einem Anmeldeschluss gestanden.
Leander faltete die dünne Inselzeitung zusammen, legte sie neben
sich auf die Bank und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Die Wärme der
Wintersonne strömte in seinen Körper und ließ ihn den kalten Wind außerhalb des
Parks völlig vergessen. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hatte Leander
das Gefühl, frei zu sein, frei von allen Verpflichtungen und Erwartungen seiner
Familie und seiner Vorgesetzten, frei von der inzwischen schier unerträglichen
Hektik des Alltags. Dieses Gefühl war so neu für ihn, dass er Mühe hatte, es
festzuhalten, während er sich dessen bewusst wurde. Was musste er tun, um den
ersehnten tiefen Frieden in sich auf Dauer herzustellen?
Seine Gedanken gingen zurück zum letzten Sommer. Damals hatte
er nicht geahnt, dass er so bald wieder hier sein würde, geschweige denn, dass
er nun ein Haus auf der Insel besaß. Nach seinem Hörsturz hatte er das Gefühl gehabt,
seine Familienangelegenheiten in Ordnung bringen zu müssen, bevor es zu spät
dafür war. Die Krisenhaftigkeit der Situation hatte ihm Angst gemacht und die
scheinbare Sicherheit und Unbeschwertheit seines Daseins erschüttert. Seine einzige
Verbindung zur Familiengeschichte war sein Großvater gewesen, nachdem sein
Vater gestorben war und ihm die Existenz des alten Mannes auf dem Sterbebett verraten
hatte. Meine Güte, hatte er sich plötzlich verlassen gefühlt! Was war nur
geschehen, dass ein Vater und sein Sohn über so viele Jahre hinweg nicht
miteinander sprachen und sogar gänzlich aus beider Leben verschwunden waren?
Was Leander wusste, war, dass sein Vater nach seiner Inselflucht,
die wahrscheinlich eher eine Vaterflucht gewesen war, zielstrebig
Geschichtswissenschaften studiert hatte. Er hatte es bis zu einer ordentlichen
Professur an der Universität in Hamburg gebracht mit zeitgeschichtlichem
Schwerpunkt auf der Geschichte des Dritten Reiches und der Nachkriegszeit bis
zur Studentenrevolte von 1968 – eine große Zeitspanne, aber allein für
Holocaustforschung gab es in der Bundesrepublik keinen Lehrstuhl. Bjarne
Leander hatte die These vertreten, dass erst mit der 68er Protestbewegung die Nazizeit
tatsächlich beendet gewesen war. In der Zeit zwischen dem Tod seines Vaters und
seinem Besuch auf Föhr im letzten Sommer hatte Leander vermutet, dass
möglicherweise die Vergangenheit seines Großvaters im Dritten Reich etwas mit
dem Zerwürfnis zu tun gehabt hatte, aber als er den alten Mann dann kennengelernt
hatte, hatte er den Verdacht innerhalb weniger Tage verworfen. Ein so
gutherziger und menschenfreundlicher Mann konnte kein Nazi gewesen sein,
wenngleich ja selbst Rudolf Höss ein sehr liebevoller Ehemann und Familienvater
gewesen sein sollte, während er gleichzeitig nur wenige Meter von dem Haus
entfernt, in dem er mit seiner Familie eine heile gutbürgerliche Lebensweise
pflegte, täglich mehr als sechstausend Juden vergasen und verbrennen ließ und
unnachgiebig auf tägliche Erfolgsmeldungen drängte. Die Neuigkeit, dass
Leanders Großvater quasi im Widerstand gearbeitet und Verfolgten des Nazi-Regimes
zur Flucht verholfen haben sollte, war einerseits beruhigend, andererseits auch
wieder nicht, denn es warf die Frage auf, weshalb Leanders Vater sich mit einem
solchen Menschen zerstritten hatte.
Nun war auch Hinnerk Leander gestorben, bevor sein Enkel das
Geheimnis seiner Wurzeln gelüftet hatte. Wollte er jetzt noch etwas erfahren,
musste er sein ganzes kriminalistisches Geschick in die Waagschale werfen.
Leander beschloss, nicht eher aufs Festland zurückzukehren, als bis er Erfolg
bei seinen Recherchen hatte. Er wollte ein für alle Mal die Basis seines Lebens
finden und sich selbst damit ins Gleichgewicht bringen.
Die Sonne verschwand hinter den Bäumen am Rande der Lichtung
und hinterließ winterliche Kälte, die Leander ergriff und bis in seine
Rückenmuskulatur kroch. Er verkrampfte sich immer mehr. Zudem hatte er
plötzlich leichte Halsschmerzen und spürte, wie sich seine Bronchien zusetzten.
Wenn das nicht als Vorwand genügte, um noch heute den Arzt seines Großvaters
aufzusuchen!
Es fiel Leander schwer, sich
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