Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
musste sie weg. Arbeiten
durfte sie ja nicht mehr, wegen der Judengesetze. Und der Ortsgruppenleiter
wollte ihr an den Kragen. Das war ein scharfer Hund, der Roeloffs. In der
Schule hat Myrthe ihn immer abblitzen lassen, und das war seine Rache. In der
Nacht nach der Reichskristallnacht haben Hinnerk und ich sie nach Dänemark
gebracht. Mit seinem Kutter.«
Er lachte leicht auf, fast lautlos.
»Sie war die Erste, die wir gerettet haben – so hat alles
angefangen. Myrthe war wirklich hübsch. Die hätte jeden haben können, wenn sie
nicht Jüdin gewesen wäre. Lange schwarze Haare, immer offen, nie hochgesteckt
oder geflochten oder so was. Und groß und schlank war sie, nicht so klein wie
unsere Inselmädchen damals. Die waren alle neidisch auf sie. Und alle Deerns
waren froh, als sie endlich weg war. Der Roeloffs hat das ausgenutzt und
behauptet, er habe sie abholen lassen, bei Nacht und Nebel. Von da an hatten
alle Angst vor ihm und er galt als strammer Nazi. Uns hat das gestunken, aber
wir konnten ja nicht sagen, wie es wirklich war.«
»Und dann ist Wencke auch noch gestorben«, lenkte Leander die
Gedanken des alten Mannes in die Richtung, die ihn eigentlich interessierte.
»Im Kindbett, ja. Hinnerk war völlig am Ende; den Bengel am
Hals, den Kutter und das Haus. Wencke war die Starke von den beiden. Er hat sie
gebraucht, und nicht nur, weil sie das Geld mitgebracht hat.«
»Welches Geld?«, hakte Leander nach.
»Na, für das Haus und den Kutter«, fuhr Wilhelm Jörgensen auf,
als hätte Leander nicht richtig zugehört. »Der alte Raabe musste ja auch raus
aus Deutschland, und öffentlich verkaufen konnte er die Sachen nicht, das wäre
aufgefallen. Da hat er Hinnerk alles angeboten. Der ist ja für ihn gefahren
vorher. Und einen Kutter konnte er ja gebrauchen, und die Wencke hatte das Geld
dazu. Das war ihre Mitgift. Ihr Vater, der olle Rickmers, war Großbauer. Seinen
Hof bekam sein Sohn und Wencke das Geld für Haus und Kutter. Viel war das ja
nicht, vor allem, weil Rickmers selbst mit dem alten Raabe verhandelt hat, aber
immerhin, für die Flucht hat es gereicht, weil Hinnerk sie mit dem Kutter nach
Dänemark gebracht hat.«
»In der Urkunde, mit der Haus und Kutter auf Hinnerk übertragen
worden sind, steht aber nichts von Geld«, wandte Lena ein.
»Natürlich nicht, Mädchen«, antwortete Wilhelm Jörgensen und
lachte spöttisch. »So ein Kauf hätte ja genehmigt werden müssen. Juden durften
ja nichts verkaufen, es sei denn an einen Parteibonzen.«
»Und der Roeloffs hat da einfach so mitgespielt?«, wunderte
sich Leander.
»Natürlich. Der war doch der beste Kumpel vom ollen Rickmers.
Ich weiß allerdings nicht, was er dafür gekriegt hat. Außerdem wurde alles
offiziell nur übertragen, mit einem Zusatzvertrag, dass der Raabe später, wenn
er nach Deutschland zurückkäme, alles wieder zurückbekommen würde. Aber den
Vertrag konnte Hinnerk 1947 vernichten, weil ja aus England die Nachricht kam,
dass Wilhelm Raabe und seine Frau ohne Erben verstorben waren.«
»Wie das?«, hakte Leander nach, der das Gefühl hatte, dass der
alte Mann mit irgendetwas hinter dem Berg hielt.
»Naja, Wilhelm Raabe hat Hinnerk seine Ausfertigung des
Vertrages geschickt und ihm geschrieben, dass seine Frau gestorben sei und er
selbst auch nicht mehr leben würde, wenn Hinnerk den Brief bekommen würde.«
»Also hat er Selbstmord begangen«, stellte Lena fest, und
Wilhelm Jörgensen nickte.
»Wie ist Hinnerk denn dann klargekommen?«, fragte Leander
weiter. »Ich meine, nach dem Tod seiner Wencke.«
»Klargekommen?«, entgegnete
der alte Mann verständnislos. »Wie soll einer damit schon klarkommen? Er hat
Wencke geliebt. Und statt seiner großen Liebe an seiner Seite hatte er jetzt
einen Hosenscheißer am Hals. Am Anfang habe ich gedacht, das schafft er nie.
Aber er hat das Schicksal entscheiden lassen. Selbst im Sturm ist er ausgelaufen
mit seiner Haffmöwe . Immer wieder. Eines Tages, nach einem schweren
Orkan, ist er dann wieder eingelaufen, hat den Kutter vertäut und ist nach
Hause gegangen. ›Der Herrgott will mich nicht‹, hat er gesagt. ›Er will, dass
ich lebe, dann soll es auch so sein‹. Von dem Tag an hat er nur noch für Bjarne
gelebt. Sein Sohn war alles, was er noch hatte. Und der hat ihn dann so
enttäuscht.«
»Was ist denn vorgefallen zwischen meinem Vater und meinem
Großvater, dass sie sich so zerstritten haben?«
»Vorgefallen?«
Wilhelm Jörgensens Art, alles in Frage zu stellen,
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