Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
machte
Leander allmählich wahnsinnig, aber er riss sich zusammen und schwieg, denn
immerhin erzählte der Alte heute bereitwillig. Und das durfte er nicht
gefährden. Wenn Wilhelm Jörgensen wieder bockig wurde, war die Chance vertan.
»Vorgefallen? Gar nichts ist vorgefallen! Das war die Zeit
damals. Waren doch alle bekloppt, die jungen Leute.«
Leander wartete, aber Wilhelm Jörgensen machte diesmal keine
Anstalten, weitere Erklärungen abzuliefern. Er warf Eiken einen hilfesuchenden
Blick zu.
»Was soll denn das heißen, Großvater?«, mischte die sich nun
ein. »Inwiefern waren die bekloppt?«
»Was ich sage!«, fuhr Wilhelm Jörgensen auf. »Für die Bengels
waren wir alle Nazis, nur weil wir im Dritten Reich gelebt haben. Was wir gegen
Hitler getan hätten, wollte Bjarne wissen. Und sein Freund auch, der Erik
Petersen, der war genauso. Gegen Hitler getan! Was, bitte schön, konnte man
gegen Hitler tun? Wir haben getan, was möglich war. Wir haben geholfen, haben
Juden aus dem Land gebracht, und Kommunisten und Sozis. Dafür hätte man uns
gehängt, standrechtlich erschossen, wenn das rausgekommen wäre. Aber davon
wollte der Bengel nichts wissen. Am Ende hat er dem armen Hinnerk vorgeworfen,
er hätte das nur getan, um Wilhelm Raabes Kutter zu bekommen. Und dann ist er
auf und davon, nach Hamburg, und er ist nie zurückgekommen. Hinnerk hat
gelitten wie ein Hund, das sage ich euch, wie ein Hund. ›Hinnerk‹, habe ich gesagt,
›Hinnerk, lass den Bengel, der taugt nichts, die taugen alle nichts, die jungen
Kerle, und die Weiber auch nicht.‹ Kommune 1, wenn ich das schon höre! Freie
Liebe! Ha!«
Wilhelm Jörgensen bekam einen Hustenanfall, und bald schüttelte
er sich und keuchte verzweifelt nach Luft.
»Großvater, meine Güte, beruhige dich doch!«, rief Eiken
besorgt und klopfte ihm auf den Rücken.
»Das hat er nicht verdient, der Hinnerk«, keuchte Wilhelm
Jörgensen. »Alles hat er getan für den Bengel, alles. Und jetzt ist er tot. So
ein guter Mensch, und ich habe ihn verraten.«
Tränen liefen dem alten Mann über die Wangen, seine Augen
blickten glasig aus dem Fenster.
»Verraten!«, kreischte er und schüttelte sich in einem erneuten
Hustenanfall.
Lena legte Leander eine Hand auf den Arm und verhinderte damit,
dass er weitere Fragen stellte. Stattdessen schüttete sie Punsch in die Gläser
und trank vorsichtig von der heißen Flüssigkeit, während sie Wilhelm Jörgensen
beobachtete, der geistig weit entrückt zu sein schien.
Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte sie sanft: »Was
wissen Sie über den Engländer, der im Sommer verunglückt ist? War er einmal
hier? Hat er Fragen gestellt?«
Wilhelm Jörgensen blickte sie an, als sei sie ein Wesen aus
einer anderen Galaxie.
»Der Engländer?«, fragte er in gewohnter Manier. »Was soll er
schon gewollt haben, der Engländer? Wie das damals so gewesen ist, wollte er
wissen. Ein feiner Mensch, das muss ich sagen. Bedankt hat er sich, weil wir
seine Eltern gerettet haben. Seine Mutter war krank damals und hätte die
Überfahrt fast nicht überlebt. Aber Hinnerk hat es geschafft, und wir haben ihm
die Küstenwache vom Hals gehalten und die Patrouillenboote.«
»Der Engländer hat also keine Ansprüche gestellt?«, hakte
Leander nach.
»Ansprüche? Was denn für Ansprüche? Die hatten doch nichts
mehr, war doch alles konfisziert. Am Ende haben wir sie für nichts und wieder
nichts gerettet. Am Anfang hatten sie ja noch Geld, aber dann …«
»Geld?«, fragte Lena angewidert. »Sie haben sich bezahlen
lassen, weil sie den Menschen das Leben gerettet haben?«
»Was heißt denn hier bezahlen lassen?«, wütete der alte Mann.
»Wir mussten doch leben. Hinnerk war Fischer. Wenn er Menschen transportiert
hat, hat er nicht nur sein Leben riskiert, er hat auch stundenlang nichts
gefangen und nur Diesel verfahren. Von irgendwas musste er seinen Sohn doch
ernähren.«
»Wie viele Menschen haben Sie denn gerettet?«, fragte Lena
versöhnlich.
»Viele!«, antwortete Wilhelm Jörgensen. »Sehr viele, und darauf
bin ich stolz! Und Hinnerk war das auch.«
»Warum haben Sie sich dann mit ihm gestritten?«, wollte Leander
wissen.
»Gestritten? Davon weiß ich nichts«, entgegnete er trotzig.
»Ihr hattet eine Meinungsverschiedenheit«, beharrte Eiken.
»Ging es um den Engländer? Was hat Hinnerk dir und Ocko vorgeworfen?«
»Vorgeworfen? Was denn vorgeworfen? Davon weiß ich nichts!«
Man könnte förmlich sehen, wie Wilhelm Jörgensen
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