Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
belegen, und so fuhr er fort: »Man spricht in dem Zusammenhang
vom ›Bäder-Antisemitismus‹. Dieses Phänomen bezieht sich auf alle Bäder, also
Kurorte, nicht nur die an der See, und erstreckt sich auch über Bayern bis nach
Österreich. Aber hier an der Küste ist man sehr offensiv damit umgegangen.
Angefangen hat das Ganze schon im neunzehnten Jahrhundert, im Kaiserreich.
Damals haben die Bildungsbürger und die Fabrikanten Urlaub bevorzugt an Nord-und Ostsee gemacht, wie auch der Kaiser. Und diese Bürger haben den seit dem
Mittelalter transportierten Antisemitismus tief in ihren deutschen Knochen
gehabt. Als dann auch noch der Erste Weltkrieg verloren war und man auf die
Suche nach Sündenböcken ging, waren die in den Juden schnell gefunden.«
»Die Dolchstoßlegende«, warf Lena ein.
»Genau«, fuhr Brodersen fort. »Überall in Deutschland
formierten sich die sogenannten anständigen Deutschen gegen die angebliche
jüdische Weltverschwörung. Es bildete sich ein Deutschvölkischer Schutz-und
Trutzbund , der überall aktiv wurde, wo er eine Chance zur Vertreibung der
Juden sah. Damals wollte man es sich in den Seebädern nicht wegen ein paar
jüdischen Bankiers, die hier Urlaub machten, mit den anderen Badegästen
verderben. Und so ging man hier sehr rabiat mit den Juden um, indem man sogar
ihre Vertreibung von den Stränden und Inseln forderte.«
»Was denn«, fragte Leander erstaunt, »so früh schon? So lange
vor dem Dritten Reich?«
»Ja nun, Hitler ist ja nicht ohne Grund gewählt worden. Seine
Judenhetze fiel auf sehr fruchtbaren Boden und bediente die Ressentiments, die
in ganz Deutschland herrschten. Und an der Nord-und Ostsee war der
Antisemitismus eben besonders radikal. Da unterscheiden sich die Ostfriesischen
Inseln nur in Nuancen von den Nordfriesischen. Auf Wangerooge zum Beispiel
verteilte der Schutz-und Trutzbund bereits 1920 Zettel mit antijüdischen
Parolen. Alle Wände und Mauern waren damit zugeklebt, und an der
Strandpromenade prangte überall die Hakenkreuzfahne. Sogar auf Sandburgen wurde
sie von Badegästen gehisst.«
»Unglaublich«, sagte Lena und schüttelte den Kopf. »Dreizehn
Jahre vor der Machtergreifung!«
»Das Wangerooger Hotel Fresenia hängte sogar ein Schild
mit der Aufschrift Juden raus an seine Wand. Andere Hoteliers warben in
ihren Hausprospekten damit, dass sie garantiert keine Juden beherbergten. Am
schlimmsten aber war Borkum. Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde dort
von antisemitischen Badegästen das Borkum-Lied gedichtet und jeden Abend in der
Musikmuschel gespielt. Pünktlich um achtzehn Uhr versammelte man sich dort und
schmetterte fröhlich mit. Da hieß es dann … Sekunde …«
Brodersen überlegte kurz und zitierte dann aus dem Gedächtnis:
»An Borkums Strand nur Deutschtum gilt,
nur deutsch ist das Panier.
Wir halten rein den Ehrenschild
Germanias für und für!
Doch wer dir naht mit platten Füßen,
mit Nasen krumm und Haaren kraus,
der soll nicht deinen Strand genießen,
der muss hinaus! Der muss hinaus! Hinaus!«
»Und das haben alle anderen Badegäste so hingenommen?«,
entrüstete sich Lena.
»Zumindest hat es keinen
Aufschrei der Empörung gegeben, wenn du das meinst. Von behördlicher Seite ist
der Versuch gemacht worden, das Lied zu verbieten, aber da war dann die besagte
Empörung so groß, dass der Erlass schnell wieder kassiert worden ist. Borkum
hat sich schon 1897 in einem Inselführer als ›judenfrei‹ bezeichnet, an Hotels
hingen Schilder mit der Aufschrift Juden und Hunde dürfen hier nicht herein! ,
oder es wurde ein Fahrplan für die Verbindung zwischen Borkum und Jerusalem
ausgehängt – mit dem Hinweis, dass keine Rückfahrkarten ausgegeben werden. In
jüdischen Zeitschriften und Reiseführern wurde schließlich offen davor gewarnt,
die Seebäder aufzusuchen, weil das für Juden zu gefährlich sei. Juist hat sich
schließlich ab 1922 offiziell auf dem Titelblatt seines Inselprospekts als ›Das
judenfreie Nordseebad‹ bezeichnet, Norderney zog später nach, ein Ostseebad –
Henkenhagen heißt es – warb mit einem ›stein-und judenfreien Badestrand‹.
Helgoland besaß seit 1928 eine nationalsozialistische Ortsgruppe, die in vergleichbarer
Weise agitierte. Mit der Machtübernahme im Jahre 1933 wurden ohnehin fast alle
politischen Posten wie die der Bürgermeister mit Nazis besetzt, und die Justiz
sicherte die Judenhetze noch zusätzlich ab. 1936 wurde den Juden in den
Verordnungen vieler Seebäder der
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