Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Dritten Reich tatsächlich ihren Besitz
zurückbekommen haben, sofern sie die Lager überlebt haben.«
»Du meinst, es könnte eine entsprechende Zusatzvereinbarung
oder einen Vertrag geben? Der müsste dann ja bei den Unterlagen meines
Großvaters sein.«
»Oder bei seinem Notar, ja.«
»Petersen!«, rief Leander. »Aber wenn es so einen Vertrag gäbe,
hätte er mir doch neulich davon erzählt und ihn mir ausgehändigt.«
»Warum sollte er das tun? Oder hast du ihn danach gefragt?«,
erkundigte sich Brodersen.
»Nein«, gestand Leander, hatte aber im nächsten Moment eine
Idee: »Natürlich! Darum hat mein Großvater darauf bestanden, dass ich die
Übertragungsurkunden mit zur Testamentseröffnung bringen muss. Das macht doch
sonst überhaupt keinen Sinn, wenn es nicht ein versteckter Hinweis für mich
sein sollte. Ich soll der Sache nachgehen, das heißt, ich soll die Zusatzvereinbarung
suchen.«
»Und warum?«, fragte Lena verständnislos.
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht soll es mich auf die Spur
der jüdischen Immobilien generell bringen.«
Lena, Leander und Brodersen ließen diese Idee einige Zeit auf
sich wirken, aber offensichtlich konnte niemand etwas Weiterführendes dazu
sagen, und so trat eine Phase des Schweigens ein.
»Wie erklärst du dir überhaupt, dass in dem antisemitischen
Klima auf den Inseln eine Fluchthilfe-Organisation entstehen konnte?«, fragte
Lena Brodersen schließlich.
»Nun, wie gesagt war Wyk nicht so extrem schlimm wie die
anderen Seebäder. Die Heymanns haben eine sehr bewegte Familiengeschichte.
Während das Familienoberhaupt unter Hausarrest gestellt wurde und den
Judenstern tragen musste, spielte der Sohn weiterhin mit dem Sohn des Ortsgruppenleiters
Roeloffs, der es sogar zuließ, dass der jüdische Junge ins Jungvolk aufgenommen
wurde. Seine Mutter hingegen wurde auf offener Straße angespuckt und zwei
andere Familienmitglieder kamen ins KZ. Ihr seht, die Lage war nicht eindeutig,
man hielt es mit seinen jüdischen Mitbürgern so, wie es einem gerade in den
Kram passte. In dieser Nische operierte dein Großvater, Henning, zusammen mit
seinen Freunden – und die waren ja hier auf der Insel nicht irgendwer, zumindest
Claus Petersen und Enno Jessen nicht, denn ihre Väter waren bedeutende Bürger
und eben keine Juden. Und dann war da ja noch die Stationierung der jungen
Männer auf Sylt, was für Hinnerk eine große Hilfe war.«
»Inwiefern?«, fragte Leander nach.
»Nun, auch da muss ich
leider wieder etwas ausholen«, fuhr Brodersen fort und hob entschuldigend die
Schultern. »Sylt wurde bereits im Ersten Weltkrieg zum Marinestützpunkt
ausgebaut. Bei Hörnum wurde das Militärlager Puan Klent eingerichtet, bei List ein Marineflughafen. Im Zweiten Weltkrieg wurden diese
Stützpunkte erweitert. Man kann sagen, Sylt wurde regelrecht zur Festung
ausgebaut. Bei List und Hörnum wurden Seefliegerhorste eingerichtet, und damit
hatte neben der Marine auch die Luftwaffe einen Stützpunkt auf Sylt. Das lag
sicher unter anderem daran, dass der Fliegergeneral Hermann Göring ein Haus in
Wenningstedt besaß, aber vor allem war die geografische Lage Sylts entscheidend.
Die Nazis fürchteten eine Invasion der Engländer über Helgoland und die anderen
Inseln. Entsprechend wurden überall Flakstellungen und Bunkeranlagen gebaut.
Sylt bot sich aber noch aus einem anderen Grund an. Es gab schon lange Planungen
für ein Start-und Landebecken für Wasserflugzeuge.«
»Das Rantum-Becken«, warf Lena ein. »Ich habe darüber vor
einiger Zeit etwas gelesen. Aber das ist doch nie fertig geworden, oder?«
»Genauso ist es«, stimmte Brodersen zu. »Der Reichsarbeitsdienst
hat bereits 1938, also vor dem eigentlichen Kriegsbeginn, mit der Eindeichung
des Rantum-Beckens begonnen. Das wurde ja quasi dem Meer abgeknöpft, auf der
Wattseite, versteht sich. Heute ist es ein wichtiges Naturschutzgebiet für alle
Arten von Seevögeln, denn es wurde bereits bei der Fertigstellung als
kriegsunwichtig eingestuft und deshalb nie wirklich als Wasserflugplatz
benutzt. Außerdem hat die Wehrmacht die Insel mit Bunkeranlagen überzogen und
in den Dünen schwere Geschütze der Seezielbatterien aufgebaut. Was ich nun
wieder spaßig an der ganzen Sache finde, ist, dass der Bäder-Antisemitismus durch
diese Kriegsarbeiten auf Sylt zum Erliegen kam, denn Sylt wurde komplett zum
Sperrgebiet erklärt und durfte nicht mehr als Seebadeort betrieben werden. Es
gab halt zu viele Militäreinrichtungen, und man
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