Leander und die Stille der Koje (German Edition)
stammt diese Technik aus den Niederlanden. Ich weiß jetzt nicht, wie gründlich Sie das alles wissen wollen.«
»Sehr gründlich, Herr Jörgens. Bitte, halten Sie von mir aus Ihren üblichen Vortrag. Wir haben Zeit. Ich möchte mir ein umfassendes Bild machen, und wer wäre da als Fachmann besser geeignet als Sie?«
»Also gut«, fuhr Jörgens sichtlich geschmeichelt fort und hangelte sich mühsam auf sicheres Terrain. »Bis vor zweihundert Jahren war das ja mit der Landwirtschaft alles nicht ausreichend hier auf der Insel. Da sind bei Sturmfluten die Sommerdeiche gebrochen und die Wassermassen haben die Getreideernte zerstört. Nicht selten hatten die Inselbewohner im Winter harte Zeiten zu überstehen, und Hunger und Unterernährung waren an der Tagesordnung. Um die Inselbevölkerung ausreichend zu versorgen, mussten die dürftigen Erträge ergänzt werden. Natürlich gab es den Fischfang, zum Glück leben wir ja auf einer Insel, aber die Fischer mussten zum Heringsfang weit raus, bis nach Helgoland. Das war im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert nicht ganz einfach. Stellen Sie sich die Boote vor, die damals gebaut wurden; das waren Nussschalen im Vergleich zu den heutigen Kuttern. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert kam dann der Walfang dazu, und damit begann das goldene Zeitalter der Nordfriesischen Inseln. Das war natürlich alles sehr gefährlich, weil die Walfangschiffe bis ins nördliche Eismeer fahren mussten.«
Er machte eine kurze Pause, und Lena konnte regelrecht sehen, wie er seinen inneren Blick vom Eismeer zurück auf die Insel lenkte: »Hier auf Föhr gab es noch die sogenannten Fischgärten, da wurden bei ablaufendem Wasser Fische in Stellnetzen gefangen, die bei Flut in die Gärten geschwommen sind. Das war natürlich alles eine sehr einseitige Ernährung, zumal es keine Rinder und Schweine auf der Insel gab. Die Landwirtschaft warf ja schon zu wenig Nahrung für die Menschen ab; Viehfutter konnte da nicht angebaut werden, und die Weiden waren jedes Jahr längere Zeit überschwemmt. Deshalb waren die Insulaner froh, als die Seeleute, die auf Schiffen der Holländer fuhren, ihnen von einer Fangtechnik erzählten, die in den Niederlanden sehr erfolgreich war: Das war der Entenfang in diesen sogenannten Vogelkojen.«
»Was bedeutet der Name?«, erkundigte sich Lena. »Ich nehme doch an, dass mit Koje nicht das Bett auf einem Schiff gemeint ist, oder?«
»Nee, natürlich nicht. Das kommt aus dem Holländischen und heißt übersetzt fangen, also Fanganlage, wenn man so will. Um 1730 wurde die erste Entenkoje hier in der Nähe in der Oevenumer Marsch errichtet. Insgesamt gab es hinterher sechs Kojen, von denen heute noch vier in Betrieb sind. Und dies hier ist eine davon. In guten Jahren sind hier auf Föhr bis zu fünfzehntausend Enten pro Koje gefangen worden. Fünfzehntausend mal sechs, das sind neunzigtausend Enten pro Jahr! Können Sie sich vorstellen, was das für ein enormer Wirtschaftsfaktor war?«
Jörgens wartete vergeblich auf Ausrufe des Erstaunens und gab sich schließlich mit dem ungeduldigen Nicken Bennings’ zufrieden, das auch so viel heißen konnte wie ›Nu mach mal hin!‹
»So viele Enten konnte man natürlich nicht essen«, fuhr der Kojenwart etwas beleidigt fort, »und deshalb hat 1885 der Wyker Kaufmann Heinrich Boysen eine Wildenten-Konservenfabrik eröffnet. Da wurden dann jährlich vierzigtausend Wildenten gerupft, ausgenommen und konserviert. Zwanzig Frauen haben da gearbeitet. Leider musste die Fabrik 1994 geschlossen werden, weil sie langsam unrentabel wurde. Die Föhrer Wildenten waren in alle Welt verkauft worden. Sogar die Hamburger Amerika-Linie hat auf ihren Fahrten nach New York beim Kapitäns-Dinner Föhrer Wildente serviert. Und die besten Delikatessenläden in New York wurden damit beliefert. Die Federn wurden übrigens auch noch genutzt – für Daunenkissen.«
»Aha«, sagte Lena. »Das erklärt aber immer noch nicht die Sache mit den Interessenten.«
Bennings hätte ihr die Frage leicht beantworten können, da er ja bereits von Hilke Rickmers belehrt worden war, aber der Kojenwärter hatte sich in Fahrt geredet. Diese Show ließ er sich nicht mehr nehmen. Und so legte Jörgens ihr die Einzelheiten in seiner gründlichen Art auseinander.
»Und diese Interessenten haben alle Schlüssel für diese Vogelkoje?«
Jörgens nickte.
»Nahmen Rickmers war auch einer der Interessenten?«
Jörgens nickte.
»Dann ist der Zugang ja wohl kaum mehr
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