Leander und die Stille der Koje (German Edition)
doch ins nächste Dorf, nach Oldsum, da finden Sie sicher die richtigen Ansprechpartner.« Dabei beugte sich der Fahrer nun mit großen, ernsten Augen zu Bainski hinüber, als sei das die rettende Idee für den Suchenden.
Das breite Grinsen auf den Gesichtern der anderen Männer aber verriet ihm, dass er diesem Rat wohl besser nicht folgte. Ohne Gruß schob Heinz Baginski sein Fahrrad weiter an der Baumaschine vorbei und stieg dann wieder auf. Vom Gelächter hinter sich angetrieben, stieg er wütend in die Pedale und nahm schnell Fahrt auf. Bald erreichte er Oldsum, folgte dort der in Richtung Deich abknickenden Straße, sah aber bei keinem der Bauernhöfe hier am Wegesrand unter Wasser stehende Flächen, und fragen wollte er heute lieber niemanden mehr.
So radelte Heinz Baginski unverrichteter Dinge wieder durch Oldsum zurück und nahm diesmal den Weg durch die übrigen Inseldörfer in Richtung Wyk. Die Marsch und ihre Bewohner hatte er für heute satt.
Etwa zu diesem Zeitpunkt betraten Lena Gesthuysen und Dieter Bennings die Boldixumer Vogelkoje. Kojenwärter Jörgens war von Hinrichs unverzüglich herbestellt worden und hatte an der Klappbrücke auf sie gewartet.
Nun schritt er wichtig voran, gefolgt von den beiden Kriminalbeamten, und schloss die Tür des Kojenwärterhäuschens auf. Lena trat als Erste ein und blickte sich um. Was sie sah, erstaunte sie, weil sie eigentlich etwas ganz anderes erwartet hatte. Angesichts der Tatsache, dass die Vogelkoje touristischen Zwecken zugänglich war, hatte sie selbstverständlich ein geschäftsmäßiges Interieur erwartet: einen Schreibtisch, Regale, Infobroschüren und -tafeln. Stattdessen wirkte der Raum trotz der Unordnung und des Mangels an Sauberkeit geradezu wohnlich. Der Tisch unter dem kleinen Fenster diente zwar als Ablage für einzelne Papierstapel und laminierte Kojenpläne, aber er konnte ebenso gut ein kleiner Esstisch sein, an dem der Kojenwärter sein Frühstück einnahm. Die Pritsche an der rechten Seite schien sogar etwas dominant angesichts der Größe des Raumes. Insgesamt vermittelte die Hütte eher den Anschein eines Wochenendhäuschens.
Lena stellte sich mitten in den Raum, schloss die Augen und ließ Geruch und Atmosphäre auf sich wirken. Eine eigentümliche und abstoßende olfaktorische Mischung: morsches Holz, leichter Gammelgeruch wie von vergessenen Fischabfällen, Modergeruch eines Tümpels, überhaupt Feuchtigkeit und Schimmel, Reste menschlicher Ausdünstungen, kalter Rauch, Bierdunst. Als sie die Augen wieder öffnete, waren die Details sofort wieder verschwunden. Was sie sah, übertünchte augenblicklich die Einzelgerüche, weil der Raum trotz allem etwas Schützendes und traditionell Heimeliges hatte. Nur der Modergeruch blieb, was sich leicht durch die Nähe zum Kojenteich erklären ließ.
Lena ging nah vor der Pritsche in die Hocke und betrachtete die fleckige Matratze. »Warum ist die nicht im Labor?«, erkundigte sie sich bei Bennings.
»Die Spusi hat alle verwertbaren Spuren gesichert und von der Matratze abgenommen. Ich nehme an, dass ihnen das Laken gereicht hat. Dem mündlichen Bericht zufolge ist es ewig lange nicht gewechselt worden.«
Lena vermied es, allzu direkt einzuatmen, und wandte sich dem Boden vor dem Bett zu. Der Blutfleck war deutlich zu sehen, auch die Rutschspuren am Pritschengestell. Sie blickte unter das Bett, suchte den Boden mit ihren Augen millimeterweise ab, konnte aber absolut nichts mehr entdecken. Die Spurensicherung war sehr gründlich gewesen. »Ist hier irgendetwas Relevantes gefunden worden?«
»Wie gesagt, der schriftliche Bericht steht noch aus. Sie können aber sicher sein, dass nichts übersehen wurde. Paul Woyke und seine Leute sind erstklassig. Wenn etwas zu finden ist, finden sie es auch.«
»Gut«, sagte Lena und erhob sich wieder. »Einen ersten Eindruck habe ich jetzt.«
Dann wandte sie sich an den Kojenwärter, der sie hämisch beobachtet hatte und sich nun, da er sich ertappt fühlte, bemühte, diesen Eindruck durch eine dienstbeflissene Miene zu korrigieren.
»Wer übernachtet hier für gewöhnlich?«, fragte sie, als hätte sie die Reaktion des Mannes nicht bemerkt.
»Nun, manchmal ich, wenn es abends zu spät wird«, antwortete Jörgens wenig überzeugend. »Und dann hin und wieder einer der Interessenten.«
»Interessenten? Das müssen Sie mir erklären.«
»Tja, wo fange ich da an? So eine Vogelkoje ist eine Fanganlage für Enten«, begann er unsicher. »Ursprünglich
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